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Familiendaten der
 Paul Wolfgang Merkelschen Familienstiftung Nürnberg

Georg Merkel

Georg Merkel

männlich 1882 - 1968  (86 Jahre)

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  • Name Georg Merkel 
    Geburt 02 Feb 1882  Nürnberg,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Taufe Nürnberg,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Geschlecht männlich 
    Beruf 1910  Filke,Röhn,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Pfarrer 
    Beruf 01 Sep 1917  Heiligengeistkirche Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Pfarrer
    Stadtpfarrer, Prodekan

    Einwohnerbuch 1942
    Merkel Georg, Stadtpfarrer A[ltstadt] Hans Sachs Platz 3 I u.II F[ernsprecher] 
    Beruf 1952  Nürnberg Heilig-Geist Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    emeritiert  
    Referenznummer 4-1.9.10 
    Tod 28 Mai 1968  Rummelsberg,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Personen-Kennung I117  Paul Wolfgang Merkel
    Zuletzt bearbeitet am 18 Mrz 2020 

    Vater Dr. Med. Gottlieb von Merkel,   geb. 29 Jun 1835, Nürnberg,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 13 Okt 1921, Nürnberg,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 86 Jahre) 
    Mutter Emma Schwarz,   geb. 04 Mai 1840, Nürnberg,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 01 Dez 1921, Nürnberg,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 81 Jahre) 
    Eheschließung 30 Mai 1865  Nürnberg,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Familien-Kennung F19  Familienblatt  |  Familientafel

    Familie "Elisabeth" Maria Dorothea Perschmann,   geb. 20 Aug 1882, Gerbstädt bei Mansfeld,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 22 Jul 1968, Rummelsberg,,,,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 85 Jahre) 
    Eheschließung 25 Sep 1910 
    Zuletzt bearbeitet am 19 Dez 1998 
    Familien-Kennung F1  Familienblatt  |  Familientafel

  • Fotos
    Personenbild
    Personenbild
    Merkel Georg 1903 P, Ausschnitt: Die 3 Brüder Hermann&Georg&Johannes als "Bubenreuther" mit Band und Mütze
    Merkel 1903 H&G&J
    Merkel 1903 H&G&J
    1903 Die 3 Brüder Hermann&Georg&Johannes als "Bubenreuther" mit Band und Mütze
    Merkel 1955
    Merkel 1955 H&G&J
    Bei Ilse und Friedrich in der Reulandstr. 10 München:
    Johannes mit Marie, Georg, Emmy mit Hermann
    Merkel Georg
    Merkel Georg

    Geschichten
    2 Lebensberichte: 'Mein Theol. Werdegang' und 'Wir Zwillinge'
    2 Lebensberichte: "Mein Theol. Werdegang" und "Wir Zwillinge"
    Georg Merkel, geschrieben Nov.-Dez. 1966, Abschrift 5.6.1995 gez.Friedrich, eingescannt 15.3.2004 Eberhard Brick
    Mein theologischer und kirchlicher -Werdegang und Weg
    Den Theologen in meiner Familie gewidmet

  • Notizen 
    • 2 Lebensberichte: "Mein Theol. Werdegang" und "Wir Zwillinge"

      Georg Merkel, geschrieben Nov.-Dez. 1966, Abschrift 5.6.1995 gez. Friedrich, eingescannt 15.3.2004 Eberhard Brick
      Mein theologischer und kirchlicher -Werdegang und Weg

      Den Theologen in meiner Familie gewidmet

      Ein großer Geschwisterkreis hat für die Jüngsten unter anderem auch darin seinen Vorzug, daß sie durch die älteren frühzeitig in andere Berufs- und Bildungskreise eingeführt werden. Unsere älteste Schwester Grete heiratete 1890 den Kaufmann Franz Hennighaußen, die zweite, Emilie, verheiratete sich 1895 mit dem späteren Amtsgerichtsrat Karl Panizza. Der älteste Bruder Hermann, neun Jahre älter als wir zwei Jüngsten, wurde Mediziner und wandte sich, nachdem er den Dr. summa cum laude hinter sich gebracht hatte, auf Veranlassung des Vaters und seines Lehrers Prof. Dr. Hauser in Erlangen, der pathologischen Anatomie zu. Er wurde später, 1913/14, Professor für gerichtliche Medizin in München. Er soll nach Aussage seiner Schüler ein sehr guter Lehrer gewesen sein, mit einem lebendigen, mit viel Humor gewürzten Vortrag. Bekannt ist er vorallem durch seine damals aufgenommenen Erforschungen der Blutgruppen geworden. Er war auch Landgerichtsarzt und hatte 1918 unter anderem den von Graf Arco ermordeten kommunistischen Ministerpräsidenten Eisner zu sezieren gehabt. Das wurde ihm 1945 zum Verhängnis, als die Amerikaner damals blöderweise erklärten. ?Ein Merkel, der den Eisner seziert hat, darf nicht mehr an der Universität lesen." Und da er auch bei der Partei war, verlor er seine schöne Wohnung und mußte sich später kläglich einschränken, bis er 1957 gestorben ist. Der zweite Bruder Johannes studierte Jurisprudenz und kam 1902/03 als Ratsassessor in den Dienst der Vaterstadt Nürnberg. Er wurde ein sehr tüchtiger Beamter und hatte im ersten Weltkrieg und danach das Finanz- und Ernährungsamt unter sich. Der damalige Oberbürgermeister Dr. Geßler nannte ihn seinen Finanzminister. Auch er kam später, Ende der zwanziger Jahre (Diktier-, Schreib- oder Gedächtnisfehler. Es war 1919.) und 1933 schwer unter die Räder, da er zugleich zweiter Vorsitzender der Demokratischen Partei war. Der Mob hatte ihn von seinem Büro durch die Straßen geschleppt. 1933 wurde er auf Betreiben von den nationalsozialistischen Führern Holz und Streicher vorzeitig pensioniert. Das traf den sehr fleißigen und arbeitsfreudigen Beamten sehr schwer. Erst der spätere nationalsozialistische, aber höchst anständige Oberbürgermeister Liebel hat ihn dann während des zweiten Weltkrieges wieder eingestellt. Johannes starb zu Frühjahrsbeginn 1960. Heiner und Benno, die zwei nächsten Geschwister, wurden sehr tüchtige und geschätzte Chemiker.

      Bei mir stand es von Anfang an fest, daß ich Pfarrer würde. Ich glaube nicht, daß meine zwei Paten, die reformierter und unierter Pfarrer waren, dazu den Anlaß gaben. Schon als Knabe stellte ich manchmal mich auf einen Hügel und tat, wie wenn ich predigen wollte, was meinen Zwillingsbruder Benno gewöhnlich ärgerte. Seit 1896 nahm ich bereits am hebräischen Unterricht bei unserem Religionslehrer Professor Bachmann teil. Ich ging gern zur Kirche und machte gern die Pfarrer, die mir gefielen, nach. Aber sonst hatten wir wenig Verbindung mit dem kirchlichen Leben. Kurz, ich wurde eben wie von selbst Theologe. Was brachte ich von zuhause für diesen Schritt mit? Da war die immerhin noch starke Tradition von Löhe da, der unseren Großvater Johann Merkel von seinem Rationalismus und seinem Freimaurertum Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu einem bewußten, strengen Luthertum bekehrt hatte und damit die ganze Familie für die kommenden Jahrzehnte auf das Stärkste beeinflußte. Unser Vater erzählte mir freilich später, daß sie als Kinder Löhe wegen seines stechenden Blickes gefürchtet hätten und er, unser Vater, den Einfluß Löhe's auf seine Mutter nicht für günstig hielt, weil Löhe sie der Welt und ihren Kindern entfremdet hätte. Sie starb allerdings auch schon 1843, fünf Jahre nach dem Tod ihres Mannes, bei dem unser Vater noch nicht drei Jahre alt war. Aber der Einfluß Löhe's war durch die Großonkel Karl und Gottlieb und durch die Tanten noch beherrschend. Doch die jüngeren männlichen Glieder der Familie, die z.T.. Ärzte wurden, haben unter dem Einfluß der aufkommenden Naturwissenschaft diese Fesseln mehr oder weniger abgeschüttelt. Trotzdem las der Vater immer bei der Morgenandacht aus den ?Samenkörnern" Löhe's, bis er später die aus dem ?Pilgerstab" von Spengler vorzog. Beide gingen aber doch sehr über unsre jungen Köpfe hinweg und muteten uns seltsam altertümlich an. Die Abendgebete unserer warmherzigen und schlichtfrommen Mutter an unsern Kinderbetten schloß sie immer mit dem Vers: ?Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid. Damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd' eingehn." Das verstanden wir zwar auch nicht. Aber es sank ins Unterbewußtsein und wirkte stark nach. Ich glaube, daß unsere Mutter durch ihre mitteldeutsche Heimat im Harz irgendwie von der Herrenhuter Brüdergemeinde berührt worden war. Jedes Jahr wurde auch einmal zum Abendmahl gegangen. Sonst bestand unsere Kirchlichkeit nur in dem sonntägliche Kirchenbesuch. In den Kindergottesdienst, in dem unsre Clär eine begeisterte Helferin war, gingen wir nicht. Nur zu den Festtagen, an Weihnachten und Ostern, nahm sie uns dorthin mit. Der Clär war es ein großer Schmerz, als sie 1895 nach der Verheiratung unserer zweiten Schwester diesen Dienst wegen Benötigung im Haushalt aufgeben mußte. Sie war bei all ihrer Heiterkeit bei uns das kirchlich am brennendsten interessierte Glied und kannte die Bibel und das Gesangbuch sehr gut, sodaß sie auch dogmatisch auf dem Laufenden war. Gern besucht ich die Ende der neunziger Jahre aufkommenden religiösen Vorträge im Vereinshaus, die unser oben schon genannter Religionslehrer Professor Bachmann, nachmals Systematiker in Erlangen, einrichtete. Ich erinnere mich dabei namentlich an einen Vortrag von Prof. Zahn aus Erlangen über ?Die Bibel im Volksmund" und an einen Vortrag meines Vaters, etwa in dem Sinn ?Über Gesundheitslehre und Frömmigkeit". In den oberen Klassen des Gymnasiums verstand Bachmann es gut auf unsere Fragen einzugehen, die sich namentlich um den eben verstorbenen Friedrich Nietzsche drehten. In den unteren Klassen machte er uns weniger Eindruck, da war er zu unjugendlich und zu trocken. Doch hatte ich, namentlich später, ein gutes Verhältnis zu ihm. Als größerer Junge interessierte mich alles Religiöse und Kirchliche. Unter den Pfarrern, die ich mehr oder weniger alle kannte, zog mich besonders der jugendliche Pfarrer an, der etwa 1893 nach Nürnberg als Vereinsgeistlicher der Inneren Mission kam. In seine Predigten ging ich wegen ihres herzhaft frischen Tones sehr gern. Er war nicht gerade tief theologisch gebildet, aber er hatte etwas sehr Warmherziges und jugendlich Lebendiges. Freilich, als ich ihn etwa gegen Ende des Jahrhunderts besuchte und auf meine Nöte und Fragen von ihm Antwort erhalten wollte, enttäuschte er mich ziemlich, da er auch nicht recht den Rat wußte, den ich brauchte. Er ist mir dann später ein sehr lieber Spezialkollege an Heilig-Geist geworden. Früher war ich so von ihm angetan, daß ich sogar seinen etwas wippenden Gang nachmachte, worüber sich die Geschwister nicht wenig lustig machten. Zum C.V.J.M. und seiner Jugendarbeit, die in den neunziger Jahren hier begann, und zu der damals auch anhebenden Gemeinschaftsbewegung hatte ich gar keine Beziehung, während mein Conpennäler Eckardt, der mit mir auch Pfarrer wurde, ganz von ihr geprägt war. Sehr lebendige Beziehungen hatten wir zuhause dagegen zu den Neuendettelsauer Schwestern und ihrem Kreis. Sie hatte 1868 unser Vater zum Krankenhausdienst im Krankenhaus eingeholt. Dadurch kamen auch verschiedene Brüder von dort zu uns ins Haus. Ich erinnere mich da namentlich an Bruder Heider mit seinem langen, graumelierten Bart; der brachte uns Kindern kleine Traktätchen und Karten mit Bibelsprüchen mit, die die Mutter mir gern kaufte. Ich liebte diesen Mann sehr. 1893 schloß der Vater auch einen Vertrag mit der neugegründeten Diakonen-Anstalt zur Ausbildung und zum Pflegedienst in dem von ihm geleiteten Krankenhaus. Da lernte ich zum erstenmal Bruder Baumann kennen, der mich bei einer drohenden Typhuserkrankung zu schröpfen hatte. Das war einer der besten Diakone, die der Vater je hatte. Mit ihm verbindet uns auch noch heute eine herzliche Freundschaft. Auch Rektor Bezzel, der spätere bedeutende Kirchenpräsident, kam wiederholt zu uns ins Haus. Beide, er und mein Vater, schätzten sich sehr. Die Mutter ging auch gern, wenn er predigte, in seinen Gottesdienst. Sie nahm uns dann auch mit, aber wir verstanden ihn wedersprachlich noch inhaltlich. Mit all dem erschöpfte sich unsere Anteilnahme am kirchlichen Leben.

      So bezog ich 1901 die Universität Erlangen und begann das Studium der Theologie. Gleich meinen zwei ältesten Brüdern, Hermann und Johannes, wurde ich, ohne viel gefragt zu werden, Bubenreuther. Ich tat mir auch hier unter meinen 21 Confüxen nicht leicht, obwohl neben mir noch fünf Theologen in der Confuxia waren. Das Fechten, das damals noch sehr streng und scharf genommen wurde, fiel mir schwer; auch das viele Trinken behagte mir nicht recht. Aber die Zucht und der herzlich rauhe, gesunde Ton, in dem wir miteinander verkehrten, tat mir recht gut. Die Burschenschaft schenkte mir dabei auch viel wertvolle Freunde für die Zukunft. Damals hatten wir in Erlangen in der Burschenschaft einen Kreis um Christian Ebert, Gerhard Clarus, Gottfried Federschmidt und Rudolf Pauken, mit denen wir zusammen oft am Waldesrand lasen, besonders Hermann Hesse, Gottfried Keller, C.F.Meyer und andere, sodaß Wastl Schneider, der berühmte trinkfeste Fechter, aber selbst ein sehr interessierter Literaturfreund, über uns sagte, wir wollten den ?Leseverein Bubenruthia" gründen. Dankbar denke ich dabei auch an den höchst originellen Pfarrer Trillhaas, an die beiden Brüder Jergius und an meinen Vorgänger in Filtre, Klaus Glenk. Mit den Bundesbrüdern war es immer ein nettes herzliches Verhältnis. Ich sagte schon in der Aktivenzeit: ?Schön wird die Burschenschaft erst, wenn man Philister wird!"

      Von den Professoren sind mir in bester Erinnerung der alte Neutestamentler Theodor von Zahn, nach Harnack's Ausspruch der bedeutendste Exeget der damaligen Zeit. Er war allerdings mehr ein Philologe, als religiös anregend. Den Kirchenhistoriker Wiegand zogen alle Bubenreuther dem anderen bedeutenden Kirchenhistoriker vor, weil er ein besonders herzliches Verhältnis zu unserer Burschenschaft hatte. Der Systematiker Bachmann, mein früherer Religionslehrer, war in seinen Vorlesungen ziemlich trocken. In dem Seminar, das wir bei ihm über die Concordienformel besuchten, war er dagegen anregender. Sehr Widerpart gegen ihn war der damals schon stark liberale Greifenstein, der spätere Oberkirchenrat, ein sehr intelligenter und redegewandter junger Mensch, nur einrissig und ohne Humor. Besonders zog uns an der reformierte Theologe Prof. Karl Müller, der Neues Testament und Systematik betrieb. Im Gegensatz zu den anderen Theologen brachte er in seine Vorlesungen bei aller Wissenschaftlichkeit einen warmen, herzlichen Ton hinein. Wir gingen gern in seine Predigten. In den letzten Erlanger Semestern zog uns sehr der Philosoph Hensel an, der damals ein sehr interessantes Kolleg über Nietzsche las. Er hatte zugleich einen allerdings etwas bissigen Humor, mit dem er auch bisweilen seine Kollegen nicht verschonte. Ich erinnere mich an den folgenden Fall bei einer Begegnung von von Zahn und ihm. von Zahn ließ, es auch nicht an bissigen Bemerkungen über seine Kollegen fehlen. Als Zahn ihm, Hensel, sagte, er sei doch wohl öfters zu scharf in seinen Witzen über andere, erwiderte Hensel ihm: ?Herr Geheimrat, ich habe mir von Ihnen sagen lassen, daß Sie auch nicht zu den Theologen gehören, die dem, der sie auf die rechte Backe schlägt, die linke hinhalten, daß er diese auch noch schlage." Man nannte v.Zahn, wie seinen Bruder in Stuttgart, gern den Giftzahn.

      1903/04 ging ich zwei Semester nach Berlin, was mein Vater mir riet, da er bei einem Internisten-Kongreß in Berlin Harnack als Rektor einen sehr anziehenden Vortrag halten hörte über das Thema: ?Das Urchristentum und die Medizin". Als ich Harnack wegen des Besuches seines Seminars über die Apologie des Justin besuchte und ihm unter anderem sagte, daß sein Schwiegervater, der Internist Thiersch in Leipzig, meinen Vater gut kenne, war er allerdings sehr kurz und sehr ungnädig. Vielleicht weil ich ihn in seiner Arbeit und sonst gestört hatte. Harnack's Vorlesungen waren höchst anziehend und so lebendig malte er die Situationen und die einzelnen Personen aus, daß man sie bis ins Einzelne nicht vergaß. Auch über Goethe und über das Johannesevangelium hörte ich Vorlesungen von ihm.

      Bisweilen kam er im Frack und mit seinen Orden geschmückt direkt von der Hoftafel beim Kaiser. Er war ohne Zweifel eitel und hielt es gern mit den Mächtigen im Staat. Sein Seminar über die Apologie nützte uns sehr bei unserem ersten Examen für die dogmengeschichtliche Arbeit über die Freiheit des Willens in der Patristik. Bei dem Alttestamentler Graf Baudissin hörte ich alttestamentliche Theologie. Es fiel uns auf, daß er bei einer Einladung das bekannte Tischgebet so sprach: ?Komm, Herr Gott, sei unser Gast...". Er war eben Ritschiljaner. Eine Vorlesung über die Psalmen besuchte ich bei dem damals als Bibel-Babel-Belitzsch bekannten Professor. Sie war religiös ziemlich flach und operierte viel mit Hinweisen auf die orientalischen Religionen. Im Umgang war der kleine Mann äußerst liebenswürdig und lebendig. Ich verkehrte auch in seinem Hause, da mich unser früherer Professor Kern auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Bei Julius Kaftan hörte ich Dogmatik, die mich aber nicht weiter beeindruckte. Bei von der Goltz, dem Extraordinarius für praktische Theologie, hörte ich eine Vorlesung über die Innere Mission. Er nahm uns auch einmal in eine Anstalt bei Berlin mit, deren Namen ich nicht mehr weiß und die mir keinen Eindruck hinterließ. Auch Wobbermin hörte ich in seinen Anfängen. Bei Erich Schmidt, dem damals bedeutendsten Literarhistoriker, der auch an der Goethe-Jubiläumsausgabe maßgeblich mitgearbeitet hat, hörte ich eine ohne Zweifel fabelhafte Vorlesung über Goethe. Dabei zelebrierte er die Goethe-Gedichte richtig, wie der Priester beim Hochamt die Messe. Verschiedentlich kam ich auch ins Haus Friedrich Paulsen, dessen Sohn Rudolf mein Confux war. Er war für uns junge Leute außerordentlich verständnisvoll, obwohl er es mit seinem eigenen Sohn gar nicht verstand. In den Gottesdiensten machte mir den tiefsten Eindruck der Oberhofprediger Dryander. Seine Bibelstunden über die Bergpredigt besuchte ich im Interimsdom regelmäßig. Mit seinem weißen Haar und seiner feinen, hohen Gestalt, noch mehr aber mit seiner Innerlichkeit und Tiefe beeindruckte er mich unvergeßlich. Von Stoecker, dessen Antisemitismus mich abstieß, ist mir eine Reformationsfestpredigt in Erinnerung, bei der mir erstmalig die bleibende und gegenwärtige Bedeutung der Reformation aufging. Er sprach sehr volkstümlich, aber außerordentlich eindringlich.

      In Berlin wohnte ich mit Clarus im Hospiz in der Auguststraße, einem bekannten Absteigequartier der Bundesbrüder. Die Miete betrug mit Frühkaffee 30,-- Mark monatlich. Die Hausmutter war Frau Altenhoff, die überaus freundliche und mütterliche Frau eines sehr griesgrämigen Diakons. Zwei Kinder hatten sie in meinem Alter, eine Tochter und einen Sohn; beide stehen mir in bester Erinnerung. Der Sohn war philosophisch sehr interessiert, aber schwermütig und schwerlebig, er hat sich später auch das Leben genommen. Die älteste Tochter war mit dem Arzt Dr. Stöß, einem Bundes-bruder in Lesum bei Bremen, verheiratet. Sie besuchte ich am Ende meiner Berlin-Zeit, es waren liebe, feine Leute. Noch einen älteren Bundesbruder, den Psychiater Dr Scholz muß ich erwähnen. Er war ein sehr feinsinniger, in der Literatur bewanderter, junger Mann, auch etwas melancholisch veranlagt. Ich hatte mit ihm viele feine Gespräche. Über seinem Bett hingen die Verse von Goethe: ?Selig, wer sich vor der Welt / ohne Haß verschließt, / einen Freund am Busen hält / und mit dem genießt, / was, von Menschen unbewußt / oder nicht bedacht, / durch das Labyrinth der Brust / wandelt in der Nacht!" Dieser Vers charakterisierte ihn besonders. Auf einem Nachmittag der Inneren Mission, zu dem mich Wilhelm Stählin mitnahm, hörten wir auch den alten Bodelschwingh reden, doch machte er infolge seines Alters keinen besonderen Eindruck auf uns. Wir hatten noch kein Gefühl für diese einzigartige Persönlichkeit und sein Werk.

      Berlin mit seinen Museen und Theatern, in die ich oft ging, und seiner zum Teil köstlich witzigen Bevölkerung erweiterte wesentlich meinen Blick. Leider wurde ich mit dem damals schon kirchlich regen Gemeindeleben nicht bekannt. Der Einblick in das kirchliche Gemeindeleben in Zeuden, wo mein Vetter und Pate Willy Gibson Pfarrer war, war katastrophal. Die Geistlichkeit, zu deren Konferenzen ich wiederholt kam, machte auf mich einen höchst zwiespältigen Eindruck. Alte orthodoxe Herren, ziemlich verfilzt und einrissig,die jungen dagegen verhielten sich wie schneidige Reserve-Offiziere, meist liberal und arg weltlich, die alten Herren erschienen politisch höchst konservativ. Den stärksten Eindruck unter diesen hinterließ auf mich der alte Grundmann, ein in der äußeren Mission führender und höchst unterrichteter Geistlicher, der auch damals einige bedeutende Bücher über die Mission schrieb. Viel und gern spielte ich nachmittags mit Bekannten Billard. Das machte mir viel Freude. Auch in das Nachtleben Berlins erhielt ich durch Conpennäler, die mit mir in Berlin studierten, Einblick; es widerte mich aber durch die üppigen Frauen mit ihren weit dekolletierten Kleidern, dem schrecklichen Schweiß- und Parfümgeruch derartig an, daß ich sofort wieder ging und es nur bei diesem einen Mal blieb. Zum ersten Mal fuhr ich mit meinem Bruder Heinrich, der bei der ?Agfa" Chemiker war, in einem Auto nach Hoppegarten zu einem Pferderennen. Öfters fuhren wir auch, Clarus, Stark, der Uttenreuther Theologe, und ich auf dem Müggelsee im Kahn oder im Segelboot und ahnten nichts von seiner Tücke. Zweimal gerieten wir auch in einen gefährlichen Sturm, aus dem wir uns noch rechtzeitig ans Ufer retten konnten. Viele Sonntage verbrachte ich auch mit Clarus in Zeuden, wo ich auch verschiedene Male für meinen Vetter predigte. Zum Schluß der Berliner Zeit durfte ich mit einem Kollegen von Heinrich eine Reise über Rügen nach Dänemark machen. Da lernte ich den Sturm in Stärke 9 kennen und mit den heranbrausenden Wogen fürchten! Mir fiel dabei der Vers Storm's ein: ?Wat brüllt de Storm? Wat brüllt de See? Der Mensch is e Worm, e Dreck is he!" See-krank aber wurden wir nicht und blieben die ganze Zeit auf Deck. Kopenhagen erregte unter herrlichem Sonnenschein einen köstlichen Genuß. Auch das Hamlet-Schloß besuchten wir. Dann fuhr ich nach Leck, wo mein Schwager Karl Panizza Amtsrichter war und Bertha Volck Hausdame und Erzieherin der Kinder. Bertha Volck hatte viel Verständnis für meine inneren Nöte. Ich lernte hier die sonst stille, in ihrer Art ausgezeichnete Persönlichkeit für mein ganzes Leben lang schätzen und lieben. Zum Schluß war ich auf der Hochzeit von Rudolf Bandel mit Thusnelda Reincke, deren Vater Medizinalrat in Hamburg und unserem Vater sehr befreundet war. Auf dieser Hochzeit trat ich mit einem selbstverfaßten Gedicht in Nürnberger Mundart als Gänsemännchen auf, was mit viel Humor gewürzt war und begeistert aufgenommen wurde. Die Trauung hielt Pastor Wilhelmi, ein sehr eindrucksvoller Geistlicher, der mich später durch eine Schrift über Nietzsche sehr fesselte.
      So kamen die beiden letzten Semester heran, die ich wieder in Erlangen, diesmal als Altes Haus verbrachte. Da war man in der Burschenschaft wesentlich freier. Recht erfreuliche und gewinnbringende Beziehungen nahm ich mit einigen Uttenreuthern auf. Mein Vetter Gottlieb Volkert, auch Uttenreuther, nahm sich die Mühe, mir im Hebräischen aufzuhelfen. Bei ihm lernte ich auch Thomas Breit kennen und als tiefgründigen Denker und Theologen schätzen. Von ganz besonderem Wert aber waren für mich die Beziehungen zu Heinrich Städler, dem später hochgeschätzten Arzt in Feuchtwangen, ein sehr gescheiter und vielseitig begabter, gleichaltriger junger Mensch, mit dem ich Sonntag für Sonntag den ganzen Hebbel las und besprach. Zeitlebens blieb ich ihm nah und verbunden. Er hatte nicht nur einen überragenden Verstand, sondern auch ein sehr warmes Herz. Besonders in der schweren Nazizeit redete er mir oft und gut zu. Ein herannahender Gehirntumor, dessen Folgen er klar übersah, drückte ihm frühzeitig den Revolver in die Hand.

      Die Praktische Theologie bei Caspari, diesem ohne Zweifel sehr gescheiten und fleißigen Theologen, brachte uns wegen seiner Trockenheit so gut wie nichts. Ich ging im Juli 1905 gern ins erste Examen, weil ich endlich einmal auch etwas ausgeben konnte, während wir bisher auf der Universität nur immer mit Wissen uns vollstopften. Denn ich hatte mir über alles schon meine eigenen Gedanken gemacht, auch wenn ich mich keiner Schule oder keinem Professor verschworen hatte. Dem verdanke ich wohl auch meine Note (sehr gut), denn mein positives Wissen und meine Sprachkenntnisse waren lückenhaft. Bei diesem Examen war ich auch viel mit Wilhelm Stählin zusammen. Wir lasen da Walter Classen'sneues Buch ?Jesus heute als unser Zeitgenosse". Man frug mich auch, ob ich unter Umständen bereit sei, ins Münchner Predigerseminar zu gehen. Doch wurde mir damals Oskar Daumiller, der in der Benotung gerade vor mir kam, vorgezogen. Das Oberkonsistorium ordnete mich dem Konsistorium Bayreuth zu und berief mich im November 1905 als Privatvikar zu Kirchenrat Wirth in Selb, der damals liberaler Abgeordneter war im bayrischen Landtag und sich beim Oberkonsistorium in München einen Privatvikar aussuchen konnte. Das halbe Jahr in Selb war eine außerordentlich schöne und glückliche Zeit. Nicht wegen Wirth, der kein besonderes Interesse an Theologie und Kirche hatte, sondern weil ich dort den hervorragenden Zweiten Pfarrer Hermann Köberle kennen und schätzen lernte. Er war auch unser Kandidaten-Vater, mit dem wir Plato's ?Staat" lasen. Köberle war eine ganz seltene Persönlichkeit, ein besonderer Freund Christian Geyer's und Gottlib Sodeur's, fromm, hochgebildet, wissenschaftlich vortrefflich geschult und enorm fleißig. Ein großer schwerer Mann, von Ansehen fast häßlich, aber von höchster innerer Qualität, zugleich ein großer Missionsfreund, von dem ich zum ersten Mal die Äußere Mission und ihre Arbeit in ihrer Bedeutung für die Kirche kennen und schätzen lernte. Kirchenrat Wirth, ein alter Herr, etwas jünger als mein Vater, hielt von all dem nicht viel. Er war mit seiner kleinen Frau ganz liebenswürdig zu mir, gab mir aber nicht viel mit. Dagegen lernte ich in Selb die Papiermühle mit ihren ganz vortrefflichen Besitzern, Theodor Jäger und seiner Schwester Anna, kennen. Ich habe sie so lieb gewonnen, daß ich fast jede freie Stunde bei ihnen war. Ich bin da sowohl mit der Industrie wie mit der Landwirtschaft, ihren Nöten und Schwierigkeiten bekannt geworden. Auch auf die Birkhahnbalz nahm er mich mit in die herrlichen Wälder. Sie ersetzten mir in ihrer warmen Freundschaft das Elternhaus und die Familie. Wer sie kannte, achtete und liebte sie. Noch heute danke ich ihnen für eines meiner schönsten Jugenderlebnisse. Wie sehnte ich mich doch immer nach guten, wertvollen Menschen! Zu den besten dieser Art gehörten die Jägers von der Papiermühle in Selb.

      Nach Ostern 1906 wurde ich als zweiter Stadtvikar nach Würzburg versetzt. Als ich in Bayreuth Konsistorialrat Beckh, den Köberle ?die holdselige Form des Kirchenregiments" nannte, besuchte, bat er mich jungen Menschen, ob er seine Pfeife weiter rauchen dürfe. Er beneidete mich förmlich, daß ich nach Würzburg käme, er fühle sich in Bayreuth wie in einer Wüste. Sein Kollege Konsistorialrat Braun war dagegen sehr scharf und barsch. Ich dagegen schüchtern und tappig, da mich niemand auf die Bedeutung und die Ordnung der Ordination hingewiesen hatte. Sie war am 18. Februar 1906 in der Spitalkirche von Bayreuth in einem Frühgottesdienst, den der alte Pfarrer Reissfinger hielt und in dem er in der Predigt steckenblieb. Auch seine Beichtrede hinterließ keinen Eindruck. Die andern zwei Kandidaten, Kern und Brescher, hatten wenigstens ihre Eltern dabei. Aber meine lagen krank zuhause zu Bett. Es war der trübseligste Tag meines ganzen Amtslebens. Braun verglich uns in seiner Rede mit dem Hofhund, der an der Kette liegt, die für uns das Bekenntnis bedeute. Dann kam ich nach Ostern 1906 als zweiter Stadtvikar bei St. Stephan nach Würzburg. Die viereinhalb Jahre dort waren auch eine sehr schöne Zeit, freilich hatte ich etwa zwanzig Schulstunden zu geben und jeden Sonntag im Gefängnis zu predigen. Außerdem hatten wir alle drei Wochen den Nachmittagsgottesdienst in St. Stephan und alle Vierteljahr einen Hauptgottesdienst in der Johanniskirche zu halten. Das Verhältnis zu den Lehrern war ausgezeichnet. Es waren auch zum Teil hervorragende Lehrkräfte. Der Unterricht an der Beyl'schen Lehrerinnen Bildungsanstalt regte mich stark an und freute mich. Noch heute erinnern sich auch Schülerinnen gern daran. An Johannis war zuerst noch der allseits äußerst beliebte Bundesbruder Pfarrer Pürckhauer und danach Kreuzei, ein origineller Prediger, als erster Pfarrer tätig. Bei den Beerdigungen erster und zweiter Klasse mußten wir als Stadtvikare mit im Leichenzug vom Trauerhaus auf den Friedhof durch die ganze Stadt mitstapfen. Als wir Stadtvikare den damaligen Dekan Pachelbel baten, das als zeitraubend und unnütz abzuschaffen, lehnte er es mit der Begründung ab, das sei ein Bekenntnis zu unserer Kirche, auf das wir den Katholiken gegenüber nicht verzichten dürften. Der Dekan war ein sehr gewandter Redner, namentlich bei Tischreden, aber kalt wie ein Fisch, an den auch seine Augen und sein Seemannsbart erinnerte. Zwischen ihm, Pürckhauer, Wolffhardt und dem Hauptlehrer Beyl herrschte ein äußerst gespanntes Verhältnis, das sogar wegen Verleumdung und angeblicher Unterschriftsfälschung seines Sohnes zu einer öffentlichen Gerichtsverhandlung führte. Auch Bezzel konnte als Kirchenpräsident die Sache nicht persönlich aus der Welt schaffen. Die Verhandlung schloß mit einem Vergleich. Ich kann nicht umhin zu behaupten, daß auf Seiten des Dekans und seiner Familie Klatsch, Eifersucht und Unwahrheit eine große Rolle spielten. Doch hat auch Wolffhardt einen richtigen Bubenreuther-Komplex gegen den Germanen Pachelbel gehabt und war sehr streitsüchtig. Wolffhardt ist bis in seinen Tod nie über die Sache hinausgewachsen. Sehr bedauert haben wir, daß dabei insofern Pürckhauer unter die Räder kam, als er nach Regensburg versetzt wurde. Das hat in vielen Kreisen, namentlich dem Evang. Arbeiterverein und dem Evang. Bund, einen schweren Schlag versetzt. Dieser Evangelische Bund spielte damals in Würzburg noch eine große Rolle durch den Streit, den der katholische Pater Berlichingen gegen Luther und die Evangelische Kirche vom Zaun brach. Es wurden vom Evangelischen Bund Vorträge über Luther von bekannten evangelischen Theologen - auch Christian Geyer von Nürnberg war darunter - veranstaltet. Ein Teil der katholischen Geistlichen war sehr rasend. Dagegen herrschte an der Universität unter den Katholiken ein dem Bischof sehr gefährlich erscheinender Modernismus, bei dem Schell, Merkle und Kiefel eine sehr angesehene Rolle spielten. Als Schell ?laudabiliter se subjecit", sagte man, die von Schell angebrachte Überschrift an der Universität ?verttati" hätte lauten müssen ?varietati". Wolffhardt gehörte zu den Leuten, die den anderen ganz für sich haben wollten. Er hatte einen richtigen ?Pachelbel-Komplex" und verdammte den Dekan und seine Familie in Grund und Boden. Mein Gerechtigkeitsgefühl konnte da aber nicht mittun. So bedrückte mich Wolffhardt's bewußte Freundlichkeit und Bundesbrüderlichkeit nicht wenig. Sonst verkehrte ich in seinem Hause mit der reizenden Frau und ihren acht Töchtern von zehn bis einem Jahr gern. Auf diese Weise konnte ich frühzeitig die Runzeln und Flecken erkennen, die Christi Braut sich angehängt. Das menschlich Allzumenschliche spielt in der Kirche eine sehr große Rolle, sodaß ich die feierlichen und hohen Worte über sie nicht recht mitmachen konnte. Ich halte es lieber mir Luther's Wort von der Kirche: ?Sie ist mir lieb, die werte Magd." Sehr freundschaftlich gesinnt war mir der gescheite, grundgelehrte und vielseitig gebildete, zweite Pfarrer von St. Stephan, Dr. Gottlieb Sodeur mit seiner Familie. Ich war oft in seinem Hause und lernte viel von ihm und seinen stilistisch feingeschliffenen Reden. Überhaupt standen mir die Uttenreuther fast näher als die Bundesbrüder, die im allgemeinen theologisch und geistig wenig interessiert waren. So kam ich auch zu Geheimrat Prof. Dr. Brenner, dem Romanisten, der auch an den Weimariana mitarbeitete. Besonders schön und ungetrübt war mein Verhältnis zu den zwei anderen Stadtvikaren, Christian Haffner und Gottfried Götz. Zeitlebens blieben wir miteinander in sehr freundschaftlichen Beziehungen, die sich auch darin ausdrückten, daß wir gegenseitig auf unseren Hochzeiten waren. Christian Hafther, damals theologisch sehr auf der liberalen Seite stehend, zog mich dort hinüber. Eines Nachts hatten wir ein Gespräch über die leibliche Auferstehung Christi, die Haffner ablehnte, was mir damals zuerst einen kräftigen Schock versetzte. Haffner bekannte sich mit der liberalen Theologie zur sogenannten objektiven Visions-Hypothese. Aber nach einem sehr umstrittenen Konferenzvortrag über das Ostergeschehen zog er mich ganz zu ihr hinüber, wie auch Sodeur als einer der liberalen Geistlichen in Würzburg galt. Lange Jahre hat es nun mein theologisches und kirchliches Denken bestimmt und ich galt danach, namentlich durch meine Freundschaft mit Christian Geyer als kirchlich abgestempelt. Für Haffner war es allerdings eine bald vorübergehende Epoche. Götz war theologisch weniger interessiert, mehr ein Mann der Tat, von herzhafter sozialer Gesinnung, durch seine Tätigkeit im Leipziger Missions-Seminar frühzeitig für die Mission aufgeschlossen. Auch in seine vortreffliche Familie bin ich oft gekommen. Er war durch seine Frau ein Schwager Rittelmeyer's, der die jüngste Tochter vom Ulmer Buchhändler Kerlen zur Frau hatte. Die eine Schwester Götz war gleichzeitig mit mir an der Mädchenberufs- und Fortbildungsschule als Lehrerin für Handarbeiten. Diese Schule hatte einen guten Ruf in Würzburg und ihren strebsamen Schülerinnen habe ich gern Religionsunterricht gegeben. Mit einigen bin ich noch lang in Beziehung gestanden. Mein Liberalismus war ein sehr gemäßigter, ich hatte viel zu viel Sinn und Verständnis für die alten Bekenntnisse unserer Kirche, als daß ich sie wie andere, z.B. Knote und Reissingen, abgelehnt hätte. Allerdings nahm ich mir die Freiheit und beharrte immer darauf, mir die einzelnen Stücke der Bekenntnisse, die anderen unannehmbar schienen, in eigenem Sinn zu deuten. Mir hat die Benützung der alten Bekenntnisse im Gottesdienst oder in den Kasualien niemals Schwierigkeiten gemacht. Dagegen waren mir die superorthodoxen Bekenntnisfreunde mit ihren schroffen Urteilen, etwa über Geyer, immer ziemlich zuwider.

      Einen besonderen Eindruck machte auf uns das verschiedentliche Auftreten Friedrich Naumann's, dieses glänzenden Redners und geistvollen Politikers, von dem jedes Wort ins Rechte traf. Er begeisterte uns so für sein national-soziales Gedankengut, daß wir regelmäßig einen Nachmittag zusammen in einem Café eine Lesestunde seiner Zeitschrift ?Die Hilfe" hielten. Auch Damaschke gewann uns mit seiner Beredsamkeit für seine Bodenreform. Es war nach allen Seiten hin ein geistig reges Leben, auch durch meine Freundschaft gekennzeichnet, die mich mit Bundesbruder Dr. Ferdinand Fischer und seiner Frau Agnes, geborene Wahnschaffe, verband. Das waren auch geistig hochstehende Leute, in deren Haus ich wie ein Bruder verkehren durfte. Er war Assistenzarzt an der Universitäts-Augenklinik. Durch Fischer's lernte ich nicht nur noch näher Gottfried Keller, sondern besonders auch Ricarda Huch in ihren Schriften kennen und dauernd hochschätzen. Die ersten drei Fischer's Töchter habe ich auch getauft. Es war ein wunderschönes Zusammensein mit ihnen am Schottenanger, in der damals noch überaus glücklichen Ehe.

      All das überragte aber in seiner Bedeutung für mich die Beziehung zu der Witwe des 1907 verstorbenen prominenten Oberbibliothekars an der Universität Dr. Dietrich Kerlen: Frau Anna Kerlen. Meine aufrichtige, warmherzige Teilnahme bei dem Tod ihres Mannes, der sie zutiefst traf, gewann ihr Herz für mich. Ich verkehrte fast täglich in ihrem Haus und besprach mit ihr alles, was mich irgendwie bedrängte. Sie war ungewöhnlich religiös interessiert, sodaß sie z.B. in der Frühe bereits ihrem Mann sagen konnte: ?Ich möchte nur wissen, wer das Johannes Evangelium geschrieben hat." Wir lasen zusammen die neuesten Kommentare und Predigten. Sie sprach mit mir über die meinigen. Sie hat in diesen Jahren den stärksten Einfluß auf meine religiöse und sonstige Entwicklung ausgeübt. Zwei Persönlichkeiten, die fast niemand kennt, haben auf sie und durch sie auf mich den tiefsten und bestimmendsten Einfluß ausgeübt: Nagel, ein Jurist in Hamburg, und vorallem Hülsmann, Religionslehrer in Wuppertal. Mit beiden war Frau Dr. Kerlen durch deren Schriften bekannt geworden. Wie diese beiden Weitschaft, höchste Bewertung der Ethik, hohe geistige Bildung und Herzensfrömmigkeit miteinander verbanden und die alten Glaubenslehren der Kirche in neuer Weise deuteten, das war für mich jedenfalls geradezu einzigartig. Aufs Tiefste bedauere ich heute noch, daß mir die Bücher von diesen beiden Persönlichkeiten und der sehr reichhaltige gegenseitige Briefwechsel mit Frau Kerlen verbrannt sind. Sie war damals etwa 56 Jahre alt, eine überaus stattliche Dame mit wundervollen, gütigen Augen, die ihr freilich viel zu schaffen machten. Obwohl sie fast taub war, hatte sie einen großen Bekanntenkreis. Keiner ging je von ihr ohne Trost und hilfreiches Wort fort. Eine so bedeutende weibliche Persönlichkeit mit so hoher Intelligenz, so straffer Zucht, so warmen Herzen und so reicher Bildung ist mir nicht mehr begegnet. Sie hat mich wie einen Sohn geliebt. Sie war zugleich auch politisch aufs Höchste interessiert und durch ihren Vater, Karl Brater, einen großdeutschen Politiker, für das großdeutsche Reich aufs Höchste eingenommen, sodaß sie 1933 Hitler als den Führer dazu herzlich begrüßte und dauernd dabei blieb. Sie ist erst mit 91 Jahren gestorben (1942). Sie war ein ganz seltener Mensch, auf den ich an ihrem 60. Geburtstag in Beziehung auf mich die Verse Frommel's anwandte: ?War's kein Engel, den Er sandte, / als mein Herz vor Sehnsucht brannte, / hat er doch auf meiner Bahn, / eines Engels Dienst getan." Durch sie wurden wir auch mit ihrer feinsinnig schlichten Schwester, der Schriftstellerin Agnes Sapper, und deren Familie bekannt und befreundet. Auch mit anderen Persönlichkeiten, ich denke vor allem an den Bankdirektor Albrecht und seine Familie, nahmen wir lebenslange Beziehungen auf. Gerne denke ich auch an Geheimrat Krück, den angesehenen Rektor des Realgymnasiums, der mich auch noch später brieflich in meinen Nöten mit den Bauern aufrichtete. So ging allmählich im Jahre 1910 die außerordentlich schöne und gewinnreiche Zeit in Würzburg zu Ende. Im Juni dieses Jahres machte ich mein zweites theologisches Examen, wo Bezzel zum ersten Mal den Vorsitz hatte. Er lud mich auch einmal abends zu sich und bot mir dabei, was sehr selten bei ihm war, das bundesbrüderliche Du an. Ich frug ihn, ob ich mich auf das ständige Vikariat Filke melden könne, auf das mich Wilhelm Stählin aufmerksam gemacht hatte. Da schwärmte mir Bezzel von der einzig- und eigenartigen Schönheit der dortigen Rhön vor. Dann frug ich ihn auch, ob ich in der Frühpredigt in St.Johannis, zu der ich erst in Ansbach aufgefordert wurde, meine Predigt nicht kürzen könne, da mir die schriftliche zu lang erschien. Er äußerte dagegen nichts, sodaß ich seine Zustimmung zu haben glaubte. Doch trug es mir einen ziemlichen Tadel des Referenten ein. Damals mußten wir unsern Lebenslauf noch lateinisch verfassen. Das hat Bezzel dann, wohl wegen unseres haarsträubenden Lateins, abgeschafft. Viel war ich auch bei diesem Examen mit Wilhelm Stählin zusammen. Er war vorher ein halbes Jahr in Würzburg wegen Fertigung seiner religionspsychologischen Doktorarbeit bei Professor Külpe. Interessant und treffend war damals Külpe's Urteil über Stählin, von dem mir später Sodeur erzählt hat: ?Stählin fehlt die wissenschaftliche Demut." Külpe, ein Balte, war wegen seiner hervorragenden wissenschaftlichen Leistung und als Mensch in Würzburg hoch angesehen. Er kam bald nach München, starb aber dort schon nach wenigen Jahren und wurde von dem ihm befreundeten Sodeur beerdigt. Durch Frau Kerler lernte ich auch Külpes, ihn und seine zwei Schwestern kennen und schätzen. Sein Nachfolger in München wurde der bedeutende Philosoph und Religionspsychologe Theodor Lipps; der mich durch seine Schriften stark beeindruckte und mein Interesse an allen psychologischen Fragen weckte.

      Sofort nach dem Examen verlobte ich mich mit Ilse Perschmann, der Tochter eines in Würzburg lebenden Superintendenten, Friedrich Perschmann. Ihre Brüder waren meine Buchhändler, Siegfried und Walther Perschmann. Auf einer Versammlung des Evangelischen Arbeitervereins, dessen Vorstand ich war, sah ich sie im Herbst 1909 neben ihrer Mutter sitzen. Da kam mir blitzartig der Gedanke und die Gewißheit: ?Die wird deine Frau!" So sehr ich mich dagegen wehrte, die Gewißheit wurde nur immer stärker. Als ich ihrem Bruder Siegfried sagte: ?Herr Perschmann, ich interessiere mich für Ihr Fräulein Schwester.", erwiderte er betroffen: ?Ist das Ihr Ernst?" Er lud mich dann öfters mit Ilse zu sich und gab uns so die Gelegenheit, uns näher kennen zum lernen. Es war eine selten schöne Zeit, wenn wir uns begegneten. Ilse hatte zunächst ja keine Ahnung von meinem Vorhaben und ihr Vater wollte nichts recht davon wissen wegen meines modernen Standpunktes. Aber Frau Kerler riet meiner Schwiegermutter, die sich an sie über mich gewandt hatte, gut zu und war auch da mein guter Geist. Am 25. September 1910 war die Hochzeit in St. Stephan und im Hotel Schwan. Mein Vetter und Pate Willy Gibson traute uns. Es war ein strahlender Sonntag. Es war ein großes Gottesgeschenk und eine allezeit gesegnete Fügung, obwohl uns Kinder, die ich mir so gern gewünscht hätte, nie geschenkt wurden: Das kam, wie sich in der Klinik in Würzburg nach einem Abgang um Weihnachten herausstellte, von dem Uterus unicornis bei meiner Frau. Der alte Sanitätsrat Huber in Fladungen, unser Hausarzt, meinte damals: Ob das kirchliche Bewußtsein uns da weiteren ehelichen Verkehr gestatte, müsse er mir überlassen. Dazu möchte ich im Hinblick auf die evangelische Ethik folgendes sagen: Benno sagte mir einmal, er empfinde die kirchliche Lehre von der Konzeptio immaculata als eine Schmähung und Herabwürdigung des ehelichen Verkehrs. Er hielte es eher mit Goethe's Wort aus ?Hermann und Dorothea" von der Mutter an den Sohn Hermann bei seiner Verheiratung mit Dorothea: ?Daß dir werde die Nacht zu schöneren Hälfte des Lebens." Das hätte wohl auch Goethe's so sinnenfreudige Mutter zu ihrem Sohn Wolfgang sagen können. Nun ist das wohl aus dem Mund gerade der Mutter an den Sohn ein etwas starkes Stück, das prüde Theologen des 19. Jahrhunderts ihm als höchst unschicklich und unsittlich vorwarfen. Aber es ist etwas Wahres daran. Die eheliche Vereinigung ist nach Leib, Seele und Geist in ihrer völligen Hingabe aneinander etwas so Einzigartiges, daß es in gewissem Sinn die Kulmination des ehelichen Verhältnisses darstellt und auch ohne jede Absicht und Wirkung der Empfängnis für sich einen höchsten Wert bedeutet. Sie entspricht in ihrem animalischen und geistigen Gehalt der Kondeszendenz-Theorie, die unsere ganze evangelische Theologie bestimmt. Sie hat also auch ihr Recht und ihre Bedeutung, wenn Kinder versagt bleiben. Die Sache hat mich natürlich viel beschäftigt, aber das ist mein Urteil darüber nach reiflicher Überlegung.

      In Filke, wo wir am 1. Oktober 1910 aufzogen, war es ein steiniger Boden. Unser alter Fleischmann, der uns dann immer den Garten umgrub, sagte mir einmal: ?Herr Pfarrer, bei uns wachsen die Steine." So war es auch geistig. Die Gegend war auch zu stark von Thüringen her bestimmt. Der Kirchenbesuch war mäßig, nur bei Festen, Beerdigungen und Abendmahlsfeiern war alles da. Ein alter Bauer sagte mir einmal: ?Wenn man alt ist, muß man sich mit dem lieben Gott befreunden." Und ein anderer verstieg sich sogar zu der Äußerung: ?Herr Pfarrer, mir ist es gleich, wo ich hinkomme, ob in den Himmel oder in die Hölle, überall finde ich Gesellschaft aus Filke." Der Einzige in seiner Frömmigkeit wirklich fromme und vorbildliche Christ in Filke war ein Darbyst, der Polizeidiener und Schuster Schanz, der in den neunziger Jahren bei einer Werbung der Darbysten aus der Kirche ausgetreten war. Ich nahm ihn oft auf meinen Fahrten nach Fladungen mit. Es ist kirchlich verständlich, tut mir aber heute noch leid, daß ausgerechnet diesem frommen Mann bei seiner Beerdigung der Kirchenvorstand das Trauergeläut und den Gottesdienst in der Kirche verweigerte. Es war nach meiner Zeit, aber ich hätte es wohl auch nicht verhindern können, da es den gesetzlichen Bestimmungen entsprach. Sehr lieb war mir der Dienst in der Diaspora um und in Fladungen, wo ich 1911 in einer Wohnung richtige urchristliche Gottesdienste einrichtete. Da war uns besonders die Familie Stöcker des dortigen Gendarmen und die Familie Gué in Hausen behilflich und besonders liebe Freunde. Noch heute sind wir mit ihnen befreundet. Von der letzteren Familie hatten wir ein Vierteljahr zur Konfirmation deren Tochter Mariechen, ein reizendes Mädchen, bei uns ganz im Hause. Als Filialen hatte ich die Tochterkirchengemeinden Sands und Weimarschmieden. In Sands hatten sie ein sehr hübsches, durch meinen Vorgänger Glenk erneuertes Kirchlein mit einer recht guten Orgel. Beide Orte waren kirchlich und sonst recht verschieden. In Weimarschmieden lebte ein sehr leichtes, aber anschmiegendes Völklein. In Sands waren sie zurückhaltender. In Weimarschmieden war auch ein Kindergarten mit einer Neuendettelsauer Schwester. Mit den Schwestern dort verband uns zeitlebens eine herzliche Freundschaft, besonders mit Sofie Hermann, einer ganz prächtigen Bauerntochter aus dem Ries. Auch im Meiningischen Schmerbach hatte ich Gottesdienst zu halten, zu dem mich der Superintendent von Meiningen, Angelroth, ziemlich formlos einsetzte. Zu Konferenzen bin ich dorthin nie gekommen. Der Besitzer des dortigen großen Gutes war ein großspuriger, ziemlich zuchtlos lebender Mann namens Grosser. Seine Frau war ganz kirchlich und warmherzig. Er hatte z.B. den Spleen, in Champagner zu baden und behandelte seine Leute sehr von oben herab. Während des Krieges hatte ich noch die Nachbarpfarrei Willmars mit Neustädtles und Völkershausen zu versehen. Der dortige mit uns befreundete Kollege Wolf war gleich zu Beginn als Militärgeistlicher eingezogen worden. Wolf, ein Maurerssohn aus Erlangen, war ein trefflicher Bauernpfarrer, theologisch wenig interessiert, aber mit dem Herzen auf dem richtigen Fleck. An ihm sah ich, wie auch Menschen aus einfachen Schichten durch den Dienst der Kirche innerlich gehoben und geadelt werden. Überall stand ich mit den Lehrern, bei denen ich ja noch Lokalschul-Inspektor war, in guten Beziehungen. Nur mit einem in Weimarschmieden, Hückmann, gab es wegen seiner rohen Schlägerei Schwierigkeiten. Aber sein Sohn wurde auch Pfarrer bei uns in Bayern. Trotz all der vielen Arbeit konnte ich mich von meinen theologischen Neigungen nicht trennen. Ich schaffte mir allmählich den ganzen Schleiermacher an und las ihn auch bis auf seine ?Dialektik", die mir zu schwer war. Von seinen Predigten habe ich viel gelernt. Auch die ersten Bücher des damals bekannt werdenden Professor Heim studierte ich, sie galten dem Problem der Glaubensgewißheit. Tiefer beeindruckt hat mich Heim aber nie. Als er später ein Büchlein schrieb über ?Die Weltanschauung der Bibel" meinte der alte Geyer, das sei nicht die Weltanschauung der Bibel, sondern die von Professor Heim. Von Wilmars aus kamen wir auch in nahe, sehr liebenswürdige Berührung zu den Familien Graf von Soden in Städtles und Baron von Stein in Völkershausen. Schönste Erinnerungen verbinden sich mit ihren Familien. Ich hatte durch die Vertretungen in Wilmars sonntags oft fünfmal zu predigen. Wagen und Pferd, die ich mir 1913 verschaffte, erleichterten es mir. Viel kamen wir mit den liberalen Kollegen in Thüringen (Förtsch/Ostheim, Dahinten/Hermannsfeld, Koch/Sontheim und anderen) zusammen, während mir die orthodoxen Lutheraner Sintenis in Meiningen und Luther in Römhild trotz ihrer ernsten Art wenig zusagten. Aber ganz befriedigte mich auch nicht der theologische Liberalismus von Thüringen. Es fehlte die Wärme und das Verständnis für die Kirche. Persönlich waren die Beziehungen mit den thüringer Brüdern aber immer herzlich. Im allgemeinen beschäftigten uns bei unserem Zusammenkommen die Religionsgeschichtler Johannes Weiß, Wernle, Köhler und Weinel in Jena. Von Letzterem weiß ich aus einem seiner Vorträge noch den Satz: ?Meine Herrn, die Bibel muß man mit geflügeltem Geist lesen." und Tröltsch sagte bereits 1913 auf einem Kongreß: ?Meine Herrn, es wackelt alles!"

      Meine Frau sammelte immer sehr lieb die Kinder um sich und sang mit ihnen. Sie war immer der gute, treue Geist meines Hauses. Nicht vergessen darf ich unser in seiner Art einzigartiges Hausmädchen Alma, das seit 1913 mit uns verbunden ist, ein richtiger Engel unseres Hauses. Zu dem ?Doktor", den ich über den ?Mauerschedel", (eine alte Kirchenruine im Tal neben uns) und die Christianisierung durch Bonifazius machen wollte, kam ich wegen der dienstlichen Arbeit nicht. Zum Musizieren mit meiner Frau kamen verschiedentlich die Lehrer der Gegend. Daß sie im Krieg, außer Mezger, alle gefallen sind, war uns ein großer Schmerz. Der Krieg kostete mir auch viel Korrespondenz mit den im Feld stehenden jungen Leuten. Es fielen in Filke allein vielleicht 10 bis 20, darunter ohne Zweifel die Besten. Einmal sagte mir eine Filkener Frau: ?Der Krieg macht mir nichts aus; ich habe schon viel Not in meinem Leben erfahren." Die Leute mußten sich auch alle in einem kärglichen Leben viel plagen und es gab viel Streit in den Familien und untereinander, so schön und friedlich der Ort im Talende auch dalag. Ihre Welt war eine kleine, aber doch der Einzelne reizvoll und originell. Nicht wenige waren im 19. Jahrhundert nach Amerika oder anderswohin ausgewandert und hatten dort ihren Mann gestellt. Die jungen Leute gingen viel in die Gewehrfabriken nach Suhl und nach Schweinfurt zur Arbeit und kamen nur übers Wochenende nach Hause. Vorehelichen Verkehr gabs weniger, er wurde aber kirchlich sehr streng durch besondere Plätze in der Kirche gerügt. Die Verhandlungen und Schlichtungen der vielen Streitigkeiten waren nicht angenehm. Der Pfarrer wurde wie ein Polizeidiener, den man fürchtete, angesehen. Aber oft hieß es: ?Ist es uns so ergangen, so darf es bei den anderen auch nicht besser gehen." Einmal bat mich unmittelbar vor dem Pfingstgottesdienst eine Frau um Hilfe, weil sie der Mann mit dem Beil bedrohte. Von meinen Vorgängern hat es entschieden Klaus Glenk am besten mit den Leuten verstanden. Mein Nachfolger, der tiefinnerliche, fromme und gelehrte Ammon, später Dekan in Bayreuth und Thurau, war todunglücklich dort. Von meinen Nachfolgern hat seelsorgerlich am besten Kurt Horn mit seiner Frau Lotte, meiner Nichte, dort gewirkt.

      Nach genau sieben Jahren schied ich von Filke. Der Hauptprediger D.Dr. Christian Geyer in Nürnberg hatte mich aufgefordert, mich nach Nürnberg auf Heilig-Geist III zu melden, und der Stadtmagistrat, der damals noch das Patronat hatte, wählte mich. Meine Frau und Alma waren todunglücklich. Meine Frau sagte: ?Überall hin, nur nicht nach Nürnberg!" Ich schied Ende August 1917 sehr betrübt in dem Gefühl, in Filke gar nichts erreicht zu haben. Erst Jahre später erfuhren wir von der Anhänglichkeit der Filkener an uns. Am schwersten wurde mir der Abschied von meinem Pferd.
      In Nürnberg war wegen des Krieges die Rübenzeit angebrochen und die Haushaltsführung wurde infolge der Lebensmittelkarten sehr schwer. Aber es ging. Der Mensch gewöhnt sich an alles. Nur Ilse und Alma weinten viel dem ruhigen Leben in Filke nach. Bei der Installation hielt mein Bruder für den Oberbürgermeister Geßler die weltliche Einführung. Die geistliche nahm der damalige Dekan Hermann, ein Conphilister, vor. Zu Mittag gabs bei den Eltern noch einmal eine Gans, die wir aus Filke mitgebracht hatten. Als ich Johannes Volkert, der der Dekan der Lorenzer Seite war, besuchte, meinte er: ?Du wirst hier noch manches Haar in der Suppe finden." Erster Pfarrer von Heilig-Geist war Julius Schiller, hochmusikalisch und künstlerisch, aber eitel und oberflächlich, ein ?glänzender Abschriftsteller", wie ihn Bildhauer Zadow nach einem Zeitungsartikel, der von einer Predigt Rittelmeyer's durch Schiller abgeschrieben worden war, nannte. Er schrieb viel in die Zeitungen, benützte aber dazu gern die Schriften anderer. Wir hatten zu ihm nie ein näheres Verhältnis. Schoner war der zweite Pfarrer, ein lieber, eifriger Kollege und Bundesbruder mit einer größeren Personalgemeinde von seiner Stadtmissionstätigkeit her. Nach Schiller's Emeritierung kam ich 1924 auf die zweite Pfarrstelle und Schoner wurde Pfarramtsführer. Nach dessen Ruhestandsversetzung im Jahre 1930 kam ich auf die erste Pfarrstelle von Heilig-Geist. Dazwischen hatten wir als Verweser verschiedene Vikare, von denen uns namentlich Bosch ein sehr lieber Kollege wurde. Der Ersatz für Schiller und Schoner waren Friedrich Bauer und Gottlob Müller. Besonders mit ersterem und seiner Familie hatten wir sehr herzliche Beziehungen. Müller kümmerte sich sehr eifrig und menschlich um die Glieder seiner Gemeinde. Ihnen äußerlich zu helfen, war ihm kein Gang zuviel. Bauer und seine Frau waren sehr feinsinnige und vielseitig gebildete Leute. Er war auch dichterisch und zeichnerisch fein begabt. 1934 kam Hubert Sondermann zu uns als dritter Pfarrer. Mit ihm und seiner Familie entwickelte sich auch ein sehr herzliches Verhältnis. Er war ein gedankenreicher, manchmal etwas explosiver Prediger, innerlich und tiefgründig, ein trefflicher Seelsorger. Alle drei verloren im zweiten Weltkrieg je einen Sohn. Ich kann sagen, daß unser Verhältnis untereinander für die Pfarrer von Nürnberg allezeit vorbildlich gut war. Mir ging es namentlich darum, niemand durch die äußere Altersüberlegenheit zu bedrücken. Ich gab jedem in seiner Tätigkeit und in seiner Eigenart völlig freie Hand und ließ niemand unter mir leiden. Mein Grundsatz war immer: Nicht eigene Ansprüche stellen, sondern die Ansprüche der anderen befriedigen. Auch meiner Frau war das ein gleiches Herzensbedürfnis.

      Ein ausnehmend schönes und gewinnreiches Verhältnis entwickelte sich mit Christian Geyer und Julius Kern, die mich auch in die Redaktion von ?Christentum und Gegenwart" hineinzogen. 1918 wurde ich auf Geyer's Veranlassung Kern's Nachfolger als Herausgeber dieses Blattes. Auch seinen Unterricht übernahm ich an der Lohmann'schen Lehrerinnen-Bildungsanstalt, woran ich und meine Schülerinnen sich noch heute gern erinnern. Kern, schon damals ein körperlich schwer behinderter Geistlicher, litt noch 12 Jahre danach in einer vorbildlich heiteren und frommen Weise an multipler Sklerose. Hier pflegte ihn in einzigartiger Weise seine Mutter. Einem solchen innerlich feinen und reichen Mann bin ich in meinem Leben nicht mehr begegnet. An ihm bewahrheitet sich in jeder Form Schleiermacher's Lieblingslied ?Es glänzet der Christen inwendiges Leben." Jeder, der ihn kannte oder mit dem er zu tun hatte, verehrte ihn aufrichtig und tief, als er mit etwa fünfzig Jahren starb.

      Geyer loben hieße Eulen nach Athen tragen. Eine solche theologisch und namentlich pädagogisch und sonst allseitig gebildete, lebendige und warmherzige Persönlichkeit hat es nicht mehr leicht gegeben. Dabei erkannte er auch den weniger Gebildeten freudig an und weckte seine guten Eigenschaften. Er war in seiner ?genaturten Heiligkeit" eine einzigartige Erscheinung. Für alles Echte und Neue hatte er einen unglaublichen Spürsinn. Er konnte auch tiefste Gedanken und Probleme in einer dem einfachsten Menschen faßlichen Form darstellen. Bilder und Gleichnisse standen ihm dafür in Fülle zur Verfügung. Das machte auch seinen Unterricht für alle seine Schülerinnen zu einem großen Erlebnis. Durch ihn gewann das Lohmann'sche Institut seinen guten Namen und sein großes Ansehen in der Stadt. Etwa 1920 machte uns Georg Merz mit Karl Barth's Römerbrief bekannt. Das war für uns alle, namentlich für Geyer, ein tiefer Einschnitt. Unter Geyer's Führung, der damit seine anthroposophischen Neigungen überwand und uns aus unserem bisherigen liberalen Kultur-Protestantismus herausriß, wurde unsere Stellung zu Kirche, Heiliger Schrift und Bekenntnis eine beglückend neue und positive. Geyer wurde uns voran ein ?Lutheraner höherer Ordnung". Eine neue Freudigkeit zu all unserer Arbeit in der Kirche wurde uns geschenkt. Wir entdeckten den Wert und die Bedeutung der alten Kirchenlieder. Eine Wendung um 180 Grad erfolgte. Es lag auch in der Luft nach den Erlebnissen des ersten Weltkrieges. In der Luft lag die Wendung zur Wiederauferstehung der Metaphysik. Das Kritische blieb, aber die Maßstäbe veränderten sich. Geyer konnte sagen: ?Wir haben über der Kritik der Bibel die Kritik der Bibel an uns vergessen." Und ?Die Apostel und Propheten haben mehr gesehen und gehört, als die Professoren an der Universität." In den von Geyer eingerichteten Diskussions-Abenden durfte ich ihm oft assistieren, nach seinem Tod übernahm ich sie ganz. Ortloph hielt Vorträge an der Volkshochschule. Auch sie übernahm ich 1946 bis 1957, desgleichen die Leitung der Pastoralkonferenz. Daneben kam die Arbeit in der Gemeinde und im Diakonieverein, den ich seit 1930 leitete und für ein Altersheim in der Blumenstraße mit dem unvergeßlichen Paul Welck gewann. 1939 zum sechshundertsten Jubiläum des Heilig-Geist Spitals ließ ich durch Bestelmeier einen neuen Steinaltar und durch Wiedel die obere Sakristei mit dem schweren Eichenschrank für die Reichskleinodien herrichten.

      Viel Freude machte mir der Unterricht und der Kindergottesdienst. Durch ersteren kam es zu einem jugendlichen Kreis der ?Christdeutschen", durch den letzteren zu regen Beziehungen mit der Gemeinde. In der Seelsorge pflegte ich namentlich das rein menschliche Element. Für das Geistige hatten die meisten wenig Sinn. Ich war da auch wohl zu wenig draufgängerisch und zu vorsichtig. ?Christus hat nur angeklopft, / nie die Türen aufgerissen, / und am allerwenigsten / je die Tore eingeschmissen." (Dichterpfarrer Knoth). Nur wo es verlangt wurde oder ich ein Verlangen spürte, betete ich mit den Leuten. Doch habe ich an Schwerkranken manche wundersame Bekehrung erlebt. Eine ganz seltene christliche Persönlichkeit habe ich in der Rotschmiedsgasse kennengelernt und viel besucht. Das ganze Haus war durch sie geweiht. Sie war in der Jugendzeit durch einen Sturz aus dem Fenster beim Putzen zeitlebens an ihren Armen schwer beschädigt und hatte nur eine kleine Rente. Aber ein so sonniges, sauberes Stübchen und einen solchen innerlich geläuterten Menschen habe ich nicht mehr erlebt. Doch habe ich in der Gemeinde nicht wenige in ihrer Arbeit und in ihrem Leben treffliche, einfache und gebildete Menschen kennengelernt, sodaß ich oft zu den jüngeren Amtsbrüdern sagte: ?Macht mir den Menschen nicht zu schlecht!"

      Nach Geyer's Tod (23.12.1929), dem ich die Grabrede hielt, und Michaelles's Pensionierung wurde ich Kandidaten -Vater und -Senior (1930 - 35). Dekan war von 1920 bis 1935 Erhard Weigel, ein gescheiter Mann und gewandter Redner, aber ohne rechtes Rückgrat. So kam Schieder 1935 als Kreisdekan an seine Stelle und Ortloph und ich wurden seine Prodekane für die Lorenzer und die Sebalder Seite. Es war ein gutes Zusammenarbeiten, doch kümmerte sich Schieder wenig um die Abgrenzungen in der Arbeit. In der Kirchenkampf-Zeit (1935 - 39) entwickelte Schieder seine ganze Größe und Eigenart als bekenntnistreuer Kämpfer. Er gewann, bis auf eine kleine Schar ?Deutscher Christen", ganz Nürnberg für die Bekenntnisfront und hielt mit seinen Ansprachen und seinem Vorbild die ganze Linie. Als Berlin seine Verhaftung verlangte, hielt der Polizeipräsident Martin schützend seine Hand über ihn, wie mir eine Telefonistin aus unserem Mädchenstudienkreis selbst sagte. Freilich, wie oft mußten wir Besuche der Gestapo empfangen und wie oft richteten wir uns zur Verhaftung her. Die ?DC" forderte unser aller Absetzung, aber gegen Schieder setzten sie sich nicht durch. Wie ein alttestamentlicher Prophet überschüttete er die Gegner mit seinen Warnungen. Ich erinnere mich noch an eine nächtliche Sitzung mit Holz und Martin, wo Schieder mit blitzenden Augen Holz an seine Todesstunde erinnerte. Auch später waren wir einmal mit Oberbürgermeister Liebel, einem übrigens vornehmen und anständigen Gegner, zusammen, wobei er uns durchblicken ließ, daß er über Holz und Streicher nicht hinaus könne. Es waren Schieder's große Jahre und seine einzigartige Bedeutung für Nürnberg. Alle Bekenntnisgottesdienste waren überfüllt. Freilich, die unter dem Druck der Nazi gewählten Kirchenvorstände waren keine erfreuliche Erscheinung. Die Nazis unter ihnen sind auch bald aus dem Kirchenvorstand und der Kirche ausgetreten. Allmählich leerten sich auch die Kirchen wieder mehr. Die vielen Geschäftsleute der Stadt waren recht opportunistisch eingestellt. Doch hörten wir immer wieder dazwischen Bemerkungen wie die: Die einzige Stelle, wo man jetzt noch die Wahrheit hören könne und vernünftige Reden gesprochen würden, sei nur die Kirche. Natürlich mußte das Telefon unter Kissen versteckt werden und wir selbst mußten sehr vorsichtig in den Gesprächen sein. Allerdings von den Greueldaten in den KZ's wußten wir nichts. Es war keine schöne Zeit. An allen Parteitagen ging ich wie eine Kassandra durch die Menge und dachte mir: ?Wann werden wir die Quittung dafür empfangen!?" Mir war Hitler von Anfang an verhaßt, seit ich ihn im November 1923 mit Ludendorff durch die Straßen an der Lorenzkirche habe fahren sehen. Ich sah ihn dann nie mehr wieder. Die Vereidigung der Pfarrer auf ihn, die ich vornehmen mußte, war mir eine schwere Belastung. Aber auch einen Stich gab es mir durchs Herz, wenn wir beim Bekenntnis-Gottesdienst am Schluß sangen: ?Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib", denn jetzt wurde es damit Ernst. Auch das Verhältnis zu den Lehrern, das sonst im Ganzen ein recht gutes war, wurde gespannt. Viele entdeckten ihre Kirchenfeindlichkeit. Bis auf wenige war eben doch das Volk im ganzen hingerissen vom Führer. Mit Schieder fand ich es entwürdigend, wie sich bei der Pfarrerversammlung mit Streicher die Kollegen zum Teil um diesen brutalen und rüden Patron, der sich hier jovial gab, drängten. Hier legte übrigens Daumiller, der als kirchlicher Kommissär bei uns wohnte, ein sehr geschicktes, lebendiges Zeugnis für die Kirche ab, sodaß Streicher sogar sagte: ?Solche Leute könnte ich in der Partei brauchen."

      Mit dem Krieg traten diese Kämpfe zurück. Die ersten Siege erschreckten Schieder so, daß er darin das kommende Unglück ahnte, gemäß dem Wort Luther's: ?Die Schweine, die Gott schlachten will, mästet er zuvor." Mir ging es ähnlich. Dann mehrten sich die Trauergottesdienste für die Gefallenen. Je häßlicher sich die Propaganda Göbbel's gab, um so mehr sank die Begeisterung. Die Bombenangriffe mehrten sich. Die erste Kirche, die in Trümmer fiel, war die Kraftshofer, wo sich Freymann zur Rettung der Kunstschätze persönlich außerordentlich bemühte. Dann kam der Bombenteppich auf Wöhrd. Schließlich wurde auch die Lorenzkirche schwer getroffen, sodaß die Lorenzer Gemeinde ihre Gottesdienste bei uns in Heilig-Geist hielt. Am 2. Januar 1945 wurde die ganze Altstadt zerstört. Von unseren 10.000 Einwohnern in Heilig-Geist blieben 200 übrig und zurück. Wir fanden in der Nacht eine kärgliche Unterkunft bei dem Gemeindeglied Engelhardt auf der Vorderen Insel Schutt. Ihre Tochter Frieda bettete uns schließlich in einer Rumpelkammer nebenan und ich hatte mit meiner Frau das Gefühl: ?Wenn ich nur dich habe." Dort bei Engelhardt's hielten wir danach auch die ersten Gottesdienste, zu denen etwa 15 Leute kamen. Mein letzter Einblick in die Kirche sah ein entsetzliches Flammenmeer. Die Beerdigungen auf dem Südfriedhof waren neben einer unzähligen Reihe von Gräbern mit weißen Holzsärgen. Treffliche Familien sind damals ausgelöscht worden. Gänge durch die zerstörte Gemeinde waren nicht mehr möglich, so lagen die Trümmer und schwelten die rauchenden Flammen umher. Das war das Ende und die Strafe für die Niederreißung der Synagoge durch Streicher. Die ersten vierzehn Tage nachher wohnten wir bei meinem Bruder Johannes in Erlenstegen. Dann fanden wir fünf Jahre Unterkunft bei dem früheren Schulfreund Braun in der Grimmstraße 22, der eben an einem Herzschlag gestorben war. Dort sahen wir am 16. April 1945 die ersten Amis. Da entdeckte ich den Wahnsinn dieses Krieges mit fast der ganzen Welt, als ein amerikanischer Jeep mit der Nummer über 2 Millionen vorbeifuhr. Als die Amis unter Schüssen auf die verschlossene Haustüre, die uns beinahe getötet hätten, ins Haus einbrachen, erbleichte der Mitbewohner Amtmann Steeghöfer, da er PG. war. Ich blieb ganz ruhig, mich bewegte nur das Psalmwort: ?Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten und hilft ihnen aus." Es geschah uns auch nichts. Nur ein Schuß durchs Fenster in der Nacht hätte mich am Schreibtisch fast getötet, wenn ich nicht eben vorher zu Bett gegangen wäre. Zuerst wohnte bei uns noch unser treuer Diakon Schemm, bis er plötzlich an einem Darmverschluß starb. Trotz des ?off limits" mußten wir für zurückkehrende amerikanische Fronttruppen für 14 Tage in das gegenüberliegende Haus uns umquartieren, wo wir über diese Zeit auf dem Fußboden des Zimmers schliefen. Ilse hatte neben anderem viele gute Weine von meinem Vetter Paul aus unserem Keller gerettet und ich freute mich dessen. Aber auf einmal wollten die Amis die Zentralheizung, in der ich den Wein versteckt hatte, anzünden, entdeckten die Flaschen und tranken den Wein. Auch mein Rad, das ich bisher gerettet hatte, nahmen mir in Erlenstegen Italiener ab. Wie schwer war nun in die Stadt zu kommen, da natürlich keine Straßenbahn ging. Sonntagsgottesdienst hielt ich nur alle vierzehn Tage in der Turmhalle der Lorenzkirche, die allein noch einigermaßen unzerstört war. Die beiden Pfarrer Müller und Sondermann waren schon vorher weggezogen, jener nach Kalchreuth, dieser nach Matthäus. Unser Diakon Schemm tat uns ausgezeichnete Dienste, in dem er aus dem Schutt der Sakristei unsere gesamten Matrikeln ausbuddelte und so rettete. Sein Tod war uns ein sehr großer Verlust und Schmerz. Seine tatkräftige Natur hätte uns noch viel retten können. Hatte er sich doch in all den Jahren an der Gemeinde trefflich bewährt, genauso wie unser blinder Organist Sutter, der ein sehr guter und kirchlicher Musiker war. Er kam dann nach Eibach und ist dort leider wenige Jahre danach gestorben. Seine Frau folgte ihm nicht lange danach in den Tod.

      Als Ortloph 1945 in Pension ging, übernahm ich auch dessen Prodekans-Arbeit. So lernte ich alle Kandidaten und Katechetinnen der Stadt kennen. Mit allen war es ein sehr schönes Arbeitsverhältnis. Natürlich war es zunächst mit aller theologischen Arbeit aus. Hier muß ich nachholen, daß ich in den zwanziger Jahren durch Geyer mit den Werken der russischen Religionsphilosophen Solovjeff, Schestow (?Auf Hiobs Waage"), Berdjajew und vorallem auch Dostojewski in seinen Romanen bekannt wurde. Darüber hielt ich auch verschiedene Vorträge. Von Schestow's Buch sagte Geyer in seinem Todesjahr (1929): Er danke Gott dafür, daß er ihn noch mit diesem Buch bekanntgemacht habe. Und noch ein großes Erlebnis möchte ich erwähnen. Es war im Jahre 1912, da besuchte ich mit Missionsinspektor Steck eine Missions-Konferenz in Herrenhut. Hier erkannte ich zum erstenmal, wie sich die Herrenhuter Brüdergemeinde in Wirklichkeit ausnahm. Es schien mir in der ganzen Atmosphäre, die mich da umwehte, hier ein Christentum und eine christliche Gesellschaft in Reinkultur zu sein. Auch die Abendmahlsfeiern dort machten mir tiefen Eindruck. Da herrschte eine Freudigkeit und Liebesgemeinschaft, wie ich sie sonst nirgends kannte. So merkwürdig es klingen mag: Das Göttliche und das Weltliche waren hier in einzigartiger Weise miteinander verbunden. Nur an einen Vortrag des Göttinger Kirchenhistoriker Professor Mirbt und an die Begegnung mit dem bekannten Berliner Pfarrer Siegmund Schultze, von dem ich schon an anderer Stell schrieb, erinnere ich mich gut.

      Zunächst war es nahezu aus mit aller gemeindlichen Arbeit. Die ganze Gemeinde war in alle Welt zerstreut. Das traf mich doch recht schwer und ich glaubte darin das tragische Ende aller m