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Familiendaten der
 Paul Wolfgang Merkelschen Familienstiftung Nürnberg

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2 Lebensberichte: "Mein Theol. Werdegang" und "Wir Zwillinge"

Georg Merkel, geschrieben Nov.-Dez. 1966, Abschrift 5.6.1995 gez. Friedrich, eingescannt 15.3.2004 Eberhard Brick
Mein theologischer und kirchlicher -Werdegang und Weg

Den Theologen in meiner Familie gewidmet

Ein großer Geschwisterkreis hat für die Jüngsten unter anderem auch darin seinen Vorzug, daß sie durch die älteren frühzeitig in andere Berufs- und Bildungskreise eingeführt werden. Unsere älteste Schwester Grete heiratete 1890 den Kaufmann Franz Hennighaußen, die zweite, Emilie, verheiratete sich 1895 mit dem späteren Amtsgerichtsrat Karl Panizza. Der älteste Bruder Hermann, neun Jahre älter als wir zwei Jüngsten, wurde Mediziner und wandte sich, nachdem er den Dr. summa cum laude hinter sich gebracht hatte, auf Veranlassung des Vaters und seines Lehrers Prof. Dr. Hauser in Erlangen, der pathologischen Anatomie zu. Er wurde später, 1913/14, Professor für gerichtliche Medizin in München. Er soll nach Aussage seiner Schüler ein sehr guter Lehrer gewesen sein, mit einem lebendigen, mit viel Humor gewürzten Vortrag. Bekannt ist er vorallem durch seine damals aufgenommenen Erforschungen der Blutgruppen geworden. Er war auch Landgerichtsarzt und hatte 1918 unter anderem den von Graf Arco ermordeten kommunistischen Ministerpräsidenten Eisner zu sezieren gehabt. Das wurde ihm 1945 zum Verhängnis, als die Amerikaner damals blöderweise erklärten. „Ein Merkel, der den Eisner seziert hat, darf nicht mehr an der Universität lesen." Und da er auch bei der Partei war, verlor er seine schöne Wohnung und mußte sich später kläglich einschränken, bis er 1957 gestorben ist. Der zweite Bruder Johannes studierte Jurisprudenz und kam 1902/03 als Ratsassessor in den Dienst der Vaterstadt Nürnberg. Er wurde ein sehr tüchtiger Beamter und hatte im ersten Weltkrieg und danach das Finanz- und Ernährungsamt unter sich. Der damalige Oberbürgermeister Dr. Geßler nannte ihn seinen Finanzminister. Auch er kam später, Ende der zwanziger Jahre (Diktier-, Schreib- oder Gedächtnisfehler. Es war 1919.) und 1933 schwer unter die Räder, da er zugleich zweiter Vorsitzender der Demokratischen Partei war. Der Mob hatte ihn von seinem Büro durch die Straßen geschleppt. 1933 wurde er auf Betreiben von den nationalsozialistischen Führern Holz und Streicher vorzeitig pensioniert. Das traf den sehr fleißigen und arbeitsfreudigen Beamten sehr schwer. Erst der spätere nationalsozialistische, aber höchst anständige Oberbürgermeister Liebel hat ihn dann während des zweiten Weltkrieges wieder eingestellt. Johannes starb zu Frühjahrsbeginn 1960. Heiner und Benno, die zwei nächsten Geschwister, wurden sehr tüchtige und geschätzte Chemiker.

Bei mir stand es von Anfang an fest, daß ich Pfarrer würde. Ich glaube nicht, daß meine zwei Paten, die reformierter und unierter Pfarrer waren, dazu den Anlaß gaben. Schon als Knabe stellte ich manchmal mich auf einen Hügel und tat, wie wenn ich predigen wollte, was meinen Zwillingsbruder Benno gewöhnlich ärgerte. Seit 1896 nahm ich bereits am hebräischen Unterricht bei unserem Religionslehrer Professor Bachmann teil. Ich ging gern zur Kirche und machte gern die Pfarrer, die mir gefielen, nach. Aber sonst hatten wir wenig Verbindung mit dem kirchlichen Leben. Kurz, ich wurde eben wie von selbst Theologe. Was brachte ich von zuhause für diesen Schritt mit? Da war die immerhin noch starke Tradition von Löhe da, der unseren Großvater Johann Merkel von seinem Rationalismus und seinem Freimaurertum Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu einem bewußten, strengen Luthertum bekehrt hatte und damit die ganze Familie für die kommenden Jahrzehnte auf das Stärkste beeinflußte. Unser Vater erzählte mir freilich später, daß sie als Kinder Löhe wegen seines stechenden Blickes gefürchtet hätten und er, unser Vater, den Einfluß Löhe's auf seine Mutter nicht für günstig hielt, weil Löhe sie der Welt und ihren Kindern entfremdet hätte. Sie starb allerdings auch schon 1843, fünf Jahre nach dem Tod ihres Mannes, bei dem unser Vater noch nicht drei Jahre alt war. Aber der Einfluß Löhe's war durch die Großonkel Karl und Gottlieb und durch die Tanten noch beherrschend. Doch die jüngeren männlichen Glieder der Familie, die z.T.. Ärzte wurden, haben unter dem Einfluß der aufkommenden Naturwissenschaft diese Fesseln mehr oder weniger abgeschüttelt. Trotzdem las der Vater immer bei der Morgenandacht aus den „Samenkörnern" Löhe's, bis er später die aus dem „Pilgerstab" von Spengler vorzog. Beide gingen aber doch sehr über unsre jungen Köpfe hinweg und muteten uns seltsam altertümlich an. Die Abendgebete unserer warmherzigen und schlichtfrommen Mutter an unsern Kinderbetten schloß sie immer mit dem Vers: „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid. Damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd' eingehn." Das verstanden wir zwar auch nicht. Aber es sank ins Unterbewußtsein und wirkte stark nach. Ich glaube, daß unsere Mutter durch ihre mitteldeutsche Heimat im Harz irgendwie von der Herrenhuter Brüdergemeinde berührt worden war. Jedes Jahr wurde auch einmal zum Abendmahl gegangen. Sonst bestand unsere Kirchlichkeit nur in dem sonntägliche Kirchenbesuch. In den Kindergottesdienst, in dem unsre Clär eine begeisterte Helferin war, gingen wir nicht. Nur zu den Festtagen, an Weihnachten und Ostern, nahm sie uns dorthin mit. Der Clär war es ein großer Schmerz, als sie 1895 nach der Verheiratung unserer zweiten Schwester diesen Dienst wegen Benötigung im Haushalt aufgeben mußte. Sie war bei all ihrer Heiterkeit bei uns das kirchlich am brennendsten interessierte Glied und kannte die Bibel und das Gesangbuch sehr gut, sodaß sie auch dogmatisch auf dem Laufenden war. Gern besucht ich die Ende der neunziger Jahre aufkommenden religiösen Vorträge im Vereinshaus, die unser oben schon genannter Religionslehrer Professor Bachmann, nachmals Systematiker in Erlangen, einrichtete. Ich erinnere mich dabei namentlich an einen Vortrag von Prof. Zahn aus Erlangen über „Die Bibel im Volksmund" und an einen Vortrag meines Vaters, etwa in dem Sinn „Über Gesundheitslehre und Frömmigkeit". In den oberen Klassen des Gymnasiums verstand Bachmann es gut auf unsere Fragen einzugehen, die sich namentlich um den eben verstorbenen Friedrich Nietzsche drehten. In den unteren Klassen machte er uns weniger Eindruck, da war er zu unjugendlich und zu trocken. Doch hatte ich, namentlich später, ein gutes Verhältnis zu ihm. Als größerer Junge interessierte mich alles Religiöse und Kirchliche. Unter den Pfarrern, die ich mehr oder weniger alle kannte, zog mich besonders der jugendliche Pfarrer an, der etwa 1893 nach Nürnberg als Vereinsgeistlicher der Inneren Mission kam. In seine Predigten ging ich wegen ihres herzhaft frischen Tones sehr gern. Er war nicht gerade tief theologisch gebildet, aber er hatte etwas sehr Warmherziges und jugendlich Lebendiges. Freilich, als ich ihn etwa gegen Ende des Jahrhunderts besuchte und auf meine Nöte und Fragen von ihm Antwort erhalten wollte, enttäuschte er mich ziemlich, da er auch nicht recht den Rat wußte, den ich brauchte. Er ist mir dann später ein sehr lieber Spezialkollege an Heilig-Geist geworden. Früher war ich so von ihm angetan, daß ich sogar seinen etwas wippenden Gang nachmachte, worüber sich die Geschwister nicht wenig lustig machten. Zum C.V.J.M. und seiner Jugendarbeit, die in den neunziger Jahren hier begann, und zu der damals auch anhebenden Gemeinschaftsbewegung hatte ich gar keine Beziehung, während mein Conpennäler Eckardt, der mit mir auch Pfarrer wurde, ganz von ihr geprägt war. Sehr lebendige Beziehungen hatten wir zuhause dagegen zu den Neuendettelsauer Schwestern und ihrem Kreis. Sie hatte 1868 unser Vater zum Krankenhausdienst im Krankenhaus eingeholt. Dadurch kamen auch verschiedene Brüder von dort zu uns ins Haus. Ich erinnere mich da namentlich an Bruder Heider mit seinem langen, graumelierten Bart; der brachte uns Kindern kleine Traktätchen und Karten mit Bibelsprüchen mit, die die Mutter mir gern kaufte. Ich liebte diesen Mann sehr. 1893 schloß der Vater auch einen Vertrag mit der neugegründeten Diakonen-Anstalt zur Ausbildung und zum Pflegedienst in dem von ihm geleiteten Krankenhaus. Da lernte ich zum erstenmal Bruder Baumann kennen, der mich bei einer drohenden Typhuserkrankung zu schröpfen hatte. Das war einer der besten Diakone, die der Vater je hatte. Mit ihm verbindet uns auch noch heute eine herzliche Freundschaft. Auch Rektor Bezzel, der spätere bedeutende Kirchenpräsident, kam wiederholt zu uns ins Haus. Beide, er und mein Vater, schätzten sich sehr. Die Mutter ging auch gern, wenn er predigte, in seinen Gottesdienst. Sie nahm uns dann auch mit, aber wir verstanden ihn wedersprachlich noch inhaltlich. Mit all dem erschöpfte sich unsere Anteilnahme am kirchlichen Leben.

So bezog ich 1901 die Universität Erlangen und begann das Studium der Theologie. Gleich meinen zwei ältesten Brüdern, Hermann und Johannes, wurde ich, ohne viel gefragt zu werden, Bubenreuther. Ich tat mir auch hier unter meinen 21 Confüxen nicht leicht, obwohl neben mir noch fünf Theologen in der Confuxia waren. Das Fechten, das damals noch sehr streng und scharf genommen wurde, fiel mir schwer; auch das viele Trinken behagte mir nicht recht. Aber die Zucht und der herzlich rauhe, gesunde Ton, in dem wir miteinander verkehrten, tat mir recht gut. Die Burschenschaft schenkte mir dabei auch viel wertvolle Freunde für die Zukunft. Damals hatten wir in Erlangen in der Burschenschaft einen Kreis um Christian Ebert, Gerhard Clarus, Gottfried Federschmidt und Rudolf Pauken, mit denen wir zusammen oft am Waldesrand lasen, besonders Hermann Hesse, Gottfried Keller, C.F.Meyer und andere, sodaß Wastl Schneider, der berühmte trinkfeste Fechter, aber selbst ein sehr interessierter Literaturfreund, über uns sagte, wir wollten den „Leseverein Bubenruthia" gründen. Dankbar denke ich dabei auch an den höchst originellen Pfarrer Trillhaas, an die beiden Brüder Jergius und an meinen Vorgänger in Filtre, Klaus Glenk. Mit den Bundesbrüdern war es immer ein nettes herzliches Verhältnis. Ich sagte schon in der Aktivenzeit: „Schön wird die Burschenschaft erst, wenn man Philister wird!"

Von den Professoren sind mir in bester Erinnerung der alte Neutestamentler Theodor von Zahn, nach Harnack's Ausspruch der bedeutendste Exeget der damaligen Zeit. Er war allerdings mehr ein Philologe, als religiös anregend. Den Kirchenhistoriker Wiegand zogen alle Bubenreuther dem anderen bedeutenden Kirchenhistoriker vor, weil er ein besonders herzliches Verhältnis zu unserer Burschenschaft hatte. Der Systematiker Bachmann, mein früherer Religionslehrer, war in seinen Vorlesungen ziemlich trocken. In dem Seminar, das wir bei ihm über die Concordienformel besuchten, war er dagegen anregender. Sehr Widerpart gegen ihn war der damals schon stark liberale Greifenstein, der spätere Oberkirchenrat, ein sehr intelligenter und redegewandter junger Mensch, nur einrissig und ohne Humor. Besonders zog uns an der reformierte Theologe Prof. Karl Müller, der Neues Testament und Systematik betrieb. Im Gegensatz zu den anderen Theologen brachte er in seine Vorlesungen bei aller Wissenschaftlichkeit einen warmen, herzlichen Ton hinein. Wir gingen gern in seine Predigten. In den letzten Erlanger Semestern zog uns sehr der Philosoph Hensel an, der damals ein sehr interessantes Kolleg über Nietzsche las. Er hatte zugleich einen allerdings etwas bissigen Humor, mit dem er auch bisweilen seine Kollegen nicht verschonte. Ich erinnere mich an den folgenden Fall bei einer Begegnung von von Zahn und ihm. von Zahn ließ, es auch nicht an bissigen Bemerkungen über seine Kollegen fehlen. Als Zahn ihm, Hensel, sagte, er sei doch wohl öfters zu scharf in seinen Witzen über andere, erwiderte Hensel ihm: „Herr Geheimrat, ich habe mir von Ihnen sagen lassen, daß Sie auch nicht zu den Theologen gehören, die dem, der sie auf die rechte Backe schlägt, die linke hinhalten, daß er diese auch noch schlage." Man nannte v.Zahn, wie seinen Bruder in Stuttgart, gern den Giftzahn.

1903/04 ging ich zwei Semester nach Berlin, was mein Vater mir riet, da er bei einem Internisten-Kongreß in Berlin Harnack als Rektor einen sehr anziehenden Vortrag halten hörte über das Thema: „Das Urchristentum und die Medizin". Als ich Harnack wegen des Besuches seines Seminars über die Apologie des Justin besuchte und ihm unter anderem sagte, daß sein Schwiegervater, der Internist Thiersch in Leipzig, meinen Vater gut kenne, war er allerdings sehr kurz und sehr ungnädig. Vielleicht weil ich ihn in seiner Arbeit und sonst gestört hatte. Harnack's Vorlesungen waren höchst anziehend und so lebendig malte er die Situationen und die einzelnen Personen aus, daß man sie bis ins Einzelne nicht vergaß. Auch über Goethe und über das Johannesevangelium hörte ich Vorlesungen von ihm.

Bisweilen kam er im Frack und mit seinen Orden geschmückt direkt von der Hoftafel beim Kaiser. Er war ohne Zweifel eitel und hielt es gern mit den Mächtigen im Staat. Sein Seminar über die Apologie nützte uns sehr bei unserem ersten Examen für die dogmengeschichtliche Arbeit über die Freiheit des Willens in der Patristik. Bei dem Alttestamentler Graf Baudissin hörte ich alttestamentliche Theologie. Es fiel uns auf, daß er bei einer Einladung das bekannte Tischgebet so sprach: „Komm, Herr Gott, sei unser Gast...". Er war eben Ritschiljaner. Eine Vorlesung über die Psalmen besuchte ich bei dem damals als Bibel-Babel-Belitzsch bekannten Professor. Sie war religiös ziemlich flach und operierte viel mit Hinweisen auf die orientalischen Religionen. Im Umgang war der kleine Mann äußerst liebenswürdig und lebendig. Ich verkehrte auch in seinem Hause, da mich unser früherer Professor Kern auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Bei Julius Kaftan hörte ich Dogmatik, die mich aber nicht weiter beeindruckte. Bei von der Goltz, dem Extraordinarius für praktische Theologie, hörte ich eine Vorlesung über die Innere Mission. Er nahm uns auch einmal in eine Anstalt bei Berlin mit, deren Namen ich nicht mehr weiß und die mir keinen Eindruck hinterließ. Auch Wobbermin hörte ich in seinen Anfängen. Bei Erich Schmidt, dem damals bedeutendsten Literarhistoriker, der auch an der Goethe-Jubiläumsausgabe maßgeblich mitgearbeitet hat, hörte ich eine ohne Zweifel fabelhafte Vorlesung über Goethe. Dabei zelebrierte er die Goethe-Gedichte richtig, wie der Priester beim Hochamt die Messe. Verschiedentlich kam ich auch ins Haus Friedrich Paulsen, dessen Sohn Rudolf mein Confux war. Er war für uns junge Leute außerordentlich verständnisvoll, obwohl er es mit seinem eigenen Sohn gar nicht verstand. In den Gottesdiensten machte mir den tiefsten Eindruck der Oberhofprediger Dryander. Seine Bibelstunden über die Bergpredigt besuchte ich im Interimsdom regelmäßig. Mit seinem weißen Haar und seiner feinen, hohen Gestalt, noch mehr aber mit seiner Innerlichkeit und Tiefe beeindruckte er mich unvergeßlich. Von Stoecker, dessen Antisemitismus mich abstieß, ist mir eine Reformationsfestpredigt in Erinnerung, bei der mir erstmalig die bleibende und gegenwärtige Bedeutung der Reformation aufging. Er sprach sehr volkstümlich, aber außerordentlich eindringlich.

In Berlin wohnte ich mit Clarus im Hospiz in der Auguststraße, einem bekannten Absteigequartier der Bundesbrüder. Die Miete betrug mit Frühkaffee 30,-- Mark monatlich. Die Hausmutter war Frau Altenhoff, die überaus freundliche und mütterliche Frau eines sehr griesgrämigen Diakons. Zwei Kinder hatten sie in meinem Alter, eine Tochter und einen Sohn; beide stehen mir in bester Erinnerung. Der Sohn war philosophisch sehr interessiert, aber schwermütig und schwerlebig, er hat sich später auch das Leben genommen. Die älteste Tochter war mit dem Arzt Dr. Stöß, einem Bundes-bruder in Lesum bei Bremen, verheiratet. Sie besuchte ich am Ende meiner Berlin-Zeit, es waren liebe, feine Leute. Noch einen älteren Bundesbruder, den Psychiater Dr Scholz muß ich erwähnen. Er war ein sehr feinsinniger, in der Literatur bewanderter, junger Mann, auch etwas melancholisch veranlagt. Ich hatte mit ihm viele feine Gespräche. Über seinem Bett hingen die Verse von Goethe: „Selig, wer sich vor der Welt / ohne Haß verschließt, / einen Freund am Busen hält / und mit dem genießt, / was, von Menschen unbewußt / oder nicht bedacht, / durch das Labyrinth der Brust / wandelt in der Nacht!" Dieser Vers charakterisierte ihn besonders. Auf einem Nachmittag der Inneren Mission, zu dem mich Wilhelm Stählin mitnahm, hörten wir auch den alten Bodelschwingh reden, doch machte er infolge seines Alters keinen besonderen Eindruck auf uns. Wir hatten noch kein Gefühl für diese einzigartige Persönlichkeit und sein Werk.

Berlin mit seinen Museen und Theatern, in die ich oft ging, und seiner zum Teil köstlich witzigen Bevölkerung erweiterte wesentlich meinen Blick. Leider wurde ich mit dem damals schon kirchlich regen Gemeindeleben nicht bekannt. Der Einblick in das kirchliche Gemeindeleben in Zeuden, wo mein Vetter und Pate Willy Gibson Pfarrer war, war katastrophal. Die Geistlichkeit, zu deren Konferenzen ich wiederholt kam, machte auf mich einen höchst zwiespältigen Eindruck. Alte orthodoxe Herren, ziemlich verfilzt und einrissig,die jungen dagegen verhielten sich wie schneidige Reserve-Offiziere, meist liberal und arg weltlich, die alten Herren erschienen politisch höchst konservativ. Den stärksten Eindruck unter diesen hinterließ auf mich der alte Grundmann, ein in der äußeren Mission führender und höchst unterrichteter Geistlicher, der auch damals einige bedeutende Bücher über die Mission schrieb. Viel und gern spielte ich nachmittags mit Bekannten Billard. Das machte mir viel Freude. Auch in das Nachtleben Berlins erhielt ich durch Conpennäler, die mit mir in Berlin studierten, Einblick; es widerte mich aber durch die üppigen Frauen mit ihren weit dekolletierten Kleidern, dem schrecklichen Schweiß- und Parfümgeruch derartig an, daß ich sofort wieder ging und es nur bei diesem einen Mal blieb. Zum ersten Mal fuhr ich mit meinem Bruder Heinrich, der bei der „Agfa" Chemiker war, in einem Auto nach Hoppegarten zu einem Pferderennen. Öfters fuhren wir auch, Clarus, Stark, der Uttenreuther Theologe, und ich auf dem Müggelsee im Kahn oder im Segelboot und ahnten nichts von seiner Tücke. Zweimal gerieten wir auch in einen gefährlichen Sturm, aus dem wir uns noch rechtzeitig ans Ufer retten konnten. Viele Sonntage verbrachte ich auch mit Clarus in Zeuden, wo ich auch verschiedene Male für meinen Vetter predigte. Zum Schluß der Berliner Zeit durfte ich mit einem Kollegen von Heinrich eine Reise über Rügen nach Dänemark machen. Da lernte ich den Sturm in Stärke 9 kennen und mit den heranbrausenden Wogen fürchten! Mir fiel dabei der Vers Storm's ein: „Wat brüllt de Storm? Wat brüllt de See? Der Mensch is e Worm, e Dreck is he!" See-krank aber wurden wir nicht und blieben die ganze Zeit auf Deck. Kopenhagen erregte unter herrlichem Sonnenschein einen köstlichen Genuß. Auch das Hamlet-Schloß besuchten wir. Dann fuhr ich nach Leck, wo mein Schwager Karl Panizza Amtsrichter war und Bertha Volck Hausdame und Erzieherin der Kinder. Bertha Volck hatte viel Verständnis für meine inneren Nöte. Ich lernte hier die sonst stille, in ihrer Art ausgezeichnete Persönlichkeit für mein ganzes Leben lang schätzen und lieben. Zum Schluß war ich auf der Hochzeit von Rudolf Bandel mit Thusnelda Reincke, deren Vater Medizinalrat in Hamburg und unserem Vater sehr befreundet war. Auf dieser Hochzeit trat ich mit einem selbstverfaßten Gedicht in Nürnberger Mundart als Gänsemännchen auf, was mit viel Humor gewürzt war und begeistert aufgenommen wurde. Die Trauung hielt Pastor Wilhelmi, ein sehr eindrucksvoller Geistlicher, der mich später durch eine Schrift über Nietzsche sehr fesselte.
So kamen die beiden letzten Semester heran, die ich wieder in Erlangen, diesmal als Altes Haus verbrachte. Da war man in der Burschenschaft wesentlich freier. Recht erfreuliche und gewinnbringende Beziehungen nahm ich mit einigen Uttenreuthern auf. Mein Vetter Gottlieb Volkert, auch Uttenreuther, nahm sich die Mühe, mir im Hebräischen aufzuhelfen. Bei ihm lernte ich auch Thomas Breit kennen und als tiefgründigen Denker und Theologen schätzen. Von ganz besonderem Wert aber waren für mich die Beziehungen zu Heinrich Städler, dem später hochgeschätzten Arzt in Feuchtwangen, ein sehr gescheiter und vielseitig begabter, gleichaltriger junger Mensch, mit dem ich Sonntag für Sonntag den ganzen Hebbel las und besprach. Zeitlebens blieb ich ihm nah und verbunden. Er hatte nicht nur einen überragenden Verstand, sondern auch ein sehr warmes Herz. Besonders in der schweren Nazizeit redete er mir oft und gut zu. Ein herannahender Gehirntumor, dessen Folgen er klar übersah, drückte ihm frühzeitig den Revolver in die Hand.

Die Praktische Theologie bei Caspari, diesem ohne Zweifel sehr gescheiten und fleißigen Theologen, brachte uns wegen seiner Trockenheit so gut wie nichts. Ich ging im Juli 1905 gern ins erste Examen, weil ich endlich einmal auch etwas ausgeben konnte, während wir bisher auf der Universität nur immer mit Wissen uns vollstopften. Denn ich hatte mir über alles schon meine eigenen Gedanken gemacht, auch wenn ich mich keiner Schule oder keinem Professor verschworen hatte. Dem verdanke ich wohl auch meine Note (sehr gut), denn mein positives Wissen und meine Sprachkenntnisse waren lückenhaft. Bei diesem Examen war ich auch viel mit Wilhelm Stählin zusammen. Wir lasen da Walter Classen'sneues Buch „Jesus heute als unser Zeitgenosse". Man frug mich auch, ob ich unter Umständen bereit sei, ins Münchner Predigerseminar zu gehen. Doch wurde mir damals Oskar Daumiller, der in der Benotung gerade vor mir kam, vorgezogen. Das Oberkonsistorium ordnete mich dem Konsistorium Bayreuth zu und berief mich im November 1905 als Privatvikar zu Kirchenrat Wirth in Selb, der damals liberaler Abgeordneter war im bayrischen Landtag und sich beim Oberkonsistorium in München einen Privatvikar aussuchen konnte. Das halbe Jahr in Selb war eine außerordentlich schöne und glückliche Zeit. Nicht wegen Wirth, der kein besonderes Interesse an Theologie und Kirche hatte, sondern weil ich dort den hervorragenden Zweiten Pfarrer Hermann Köberle kennen und schätzen lernte. Er war auch unser Kandidaten-Vater, mit dem wir Plato's „Staat" lasen. Köberle war eine ganz seltene Persönlichkeit, ein besonderer Freund Christian Geyer's und Gottlib Sodeur's, fromm, hochgebildet, wissenschaftlich vortrefflich geschult und enorm fleißig. Ein großer schwerer Mann, von Ansehen fast häßlich, aber von höchster innerer Qualität, zugleich ein großer Missionsfreund, von dem ich zum ersten Mal die Äußere Mission und ihre Arbeit in ihrer Bedeutung für die Kirche kennen und schätzen lernte. Kirchenrat Wirth, ein alter Herr, etwas jünger als mein Vater, hielt von all dem nicht viel. Er war mit seiner kleinen Frau ganz liebenswürdig zu mir, gab mir aber nicht viel mit. Dagegen lernte ich in Selb die Papiermühle mit ihren ganz vortrefflichen Besitzern, Theodor Jäger und seiner Schwester Anna, kennen. Ich habe sie so lieb gewonnen, daß ich fast jede freie Stunde bei ihnen war. Ich bin da sowohl mit der Industrie wie mit der Landwirtschaft, ihren Nöten und Schwierigkeiten bekannt geworden. Auch auf die Birkhahnbalz nahm er mich mit in die herrlichen Wälder. Sie ersetzten mir in ihrer warmen Freundschaft das Elternhaus und die Familie. Wer sie kannte, achtete und liebte sie. Noch heute danke ich ihnen für eines meiner schönsten Jugenderlebnisse. Wie sehnte ich mich doch immer nach guten, wertvollen Menschen! Zu den besten dieser Art gehörten die Jägers von der Papiermühle in Selb.

Nach Ostern 1906 wurde ich als zweiter Stadtvikar nach Würzburg versetzt. Als ich in Bayreuth Konsistorialrat Beckh, den Köberle „die holdselige Form des Kirchenregiments" nannte, besuchte, bat er mich jungen Menschen, ob er seine Pfeife weiter rauchen dürfe. Er beneidete mich förmlich, daß ich nach Würzburg käme, er fühle sich in Bayreuth wie in einer Wüste. Sein Kollege Konsistorialrat Braun war dagegen sehr scharf und barsch. Ich dagegen schüchtern und tappig, da mich niemand auf die Bedeutung und die Ordnung der Ordination hingewiesen hatte. Sie war am 18. Februar 1906 in der Spitalkirche von Bayreuth in einem Frühgottesdienst, den der alte Pfarrer Reissfinger hielt und in dem er in der Predigt steckenblieb. Auch seine Beichtrede hinterließ keinen Eindruck. Die andern zwei Kandidaten, Kern und Brescher, hatten wenigstens ihre Eltern dabei. Aber meine lagen krank zuhause zu Bett. Es war der trübseligste Tag meines ganzen Amtslebens. Braun verglich uns in seiner Rede mit dem Hofhund, der an der Kette liegt, die für uns das Bekenntnis bedeute. Dann kam ich nach Ostern 1906 als zweiter Stadtvikar bei St. Stephan nach Würzburg. Die viereinhalb Jahre dort waren auch eine sehr schöne Zeit, freilich hatte ich etwa zwanzig Schulstunden zu geben und jeden Sonntag im Gefängnis zu predigen. Außerdem hatten wir alle drei Wochen den Nachmittagsgottesdienst in St. Stephan und alle Vierteljahr einen Hauptgottesdienst in der Johanniskirche zu halten. Das Verhältnis zu den Lehrern war ausgezeichnet. Es waren auch zum Teil hervorragende Lehrkräfte. Der Unterricht an der Beyl'schen Lehrerinnen Bildungsanstalt regte mich stark an und freute mich. Noch heute erinnern sich auch Schülerinnen gern daran. An Johannis war zuerst noch der allseits äußerst beliebte Bundesbruder Pfarrer Pürckhauer und danach Kreuzei, ein origineller Prediger, als erster Pfarrer tätig. Bei den Beerdigungen erster und zweiter Klasse mußten wir als Stadtvikare mit im Leichenzug vom Trauerhaus auf den Friedhof durch die ganze Stadt mitstapfen. Als wir Stadtvikare den damaligen Dekan Pachelbel baten, das als zeitraubend und unnütz abzuschaffen, lehnte er es mit der Begründung ab, das sei ein Bekenntnis zu unserer Kirche, auf das wir den Katholiken gegenüber nicht verzichten dürften. Der Dekan war ein sehr gewandter Redner, namentlich bei Tischreden, aber kalt wie ein Fisch, an den auch seine Augen und sein Seemannsbart erinnerte. Zwischen ihm, Pürckhauer, Wolffhardt und dem Hauptlehrer Beyl herrschte ein äußerst gespanntes Verhältnis, das sogar wegen Verleumdung und angeblicher Unterschriftsfälschung seines Sohnes zu einer öffentlichen Gerichtsverhandlung führte. Auch Bezzel konnte als Kirchenpräsident die Sache nicht persönlich aus der Welt schaffen. Die Verhandlung schloß mit einem Vergleich. Ich kann nicht umhin zu behaupten, daß auf Seiten des Dekans und seiner Familie Klatsch, Eifersucht und Unwahrheit eine große Rolle spielten. Doch hat auch Wolffhardt einen richtigen Bubenreuther-Komplex gegen den Germanen Pachelbel gehabt und war sehr streitsüchtig. Wolffhardt ist bis in seinen Tod nie über die Sache hinausgewachsen. Sehr bedauert haben wir, daß dabei insofern Pürckhauer unter die Räder kam, als er nach Regensburg versetzt wurde. Das hat in vielen Kreisen, namentlich dem Evang. Arbeiterverein und dem Evang. Bund, einen schweren Schlag versetzt. Dieser Evangelische Bund spielte damals in Würzburg noch eine große Rolle durch den Streit, den der katholische Pater Berlichingen gegen Luther und die Evangelische Kirche vom Zaun brach. Es wurden vom Evangelischen Bund Vorträge über Luther von bekannten evangelischen Theologen - auch Christian Geyer von Nürnberg war darunter - veranstaltet. Ein Teil der katholischen Geistlichen war sehr rasend. Dagegen herrschte an der Universität unter den Katholiken ein dem Bischof sehr gefährlich erscheinender Modernismus, bei dem Schell, Merkle und Kiefel eine sehr angesehene Rolle spielten. Als Schell „laudabiliter se subjecit", sagte man, die von Schell angebrachte Überschrift an der Universität „verttati" hätte lauten müssen „varietati". Wolffhardt gehörte zu den Leuten, die den anderen ganz für sich haben wollten. Er hatte einen richtigen „Pachelbel-Komplex" und verdammte den Dekan und seine Familie in Grund und Boden. Mein Gerechtigkeitsgefühl konnte da aber nicht mittun. So bedrückte mich Wolffhardt's bewußte Freundlichkeit und Bundesbrüderlichkeit nicht wenig. Sonst verkehrte ich in seinem Hause mit der reizenden Frau und ihren acht Töchtern von zehn bis einem Jahr gern. Auf diese Weise konnte ich frühzeitig die Runzeln und Flecken erkennen, die Christi Braut sich angehängt. Das menschlich Allzumenschliche spielt in der Kirche eine sehr große Rolle, sodaß ich die feierlichen und hohen Worte über sie nicht recht mitmachen konnte. Ich halte es lieber mir Luther's Wort von der Kirche: „Sie ist mir lieb, die werte Magd." Sehr freundschaftlich gesinnt war mir der gescheite, grundgelehrte und vielseitig gebildete, zweite Pfarrer von St. Stephan, Dr. Gottlieb Sodeur mit seiner Familie. Ich war oft in seinem Hause und lernte viel von ihm und seinen stilistisch feingeschliffenen Reden. Überhaupt standen mir die Uttenreuther fast näher als die Bundesbrüder, die im allgemeinen theologisch und geistig wenig interessiert waren. So kam ich auch zu Geheimrat Prof. Dr. Brenner, dem Romanisten, der auch an den Weimariana mitarbeitete. Besonders schön und ungetrübt war mein Verhältnis zu den zwei anderen Stadtvikaren, Christian Haffner und Gottfried Götz. Zeitlebens blieben wir miteinander in sehr freundschaftlichen Beziehungen, die sich auch darin ausdrückten, daß wir gegenseitig auf unseren Hochzeiten waren. Christian Hafther, damals theologisch sehr auf der liberalen Seite stehend, zog mich dort hinüber. Eines Nachts hatten wir ein Gespräch über die leibliche Auferstehung Christi, die Haffner ablehnte, was mir damals zuerst einen kräftigen Schock versetzte. Haffner bekannte sich mit der liberalen Theologie zur sogenannten objektiven Visions-Hypothese. Aber nach einem sehr umstrittenen Konferenzvortrag über das Ostergeschehen zog er mich ganz zu ihr hinüber, wie auch Sodeur als einer der liberalen Geistlichen in Würzburg galt. Lange Jahre hat es nun mein theologisches und kirchliches Denken bestimmt und ich galt danach, namentlich durch meine Freundschaft mit Christian Geyer als kirchlich abgestempelt. Für Haffner war es allerdings eine bald vorübergehende Epoche. Götz war theologisch weniger interessiert, mehr ein Mann der Tat, von herzhafter sozialer Gesinnung, durch seine Tätigkeit im Leipziger Missions-Seminar frühzeitig für die Mission aufgeschlossen. Auch in seine vortreffliche Familie bin ich oft gekommen. Er war durch seine Frau ein Schwager Rittelmeyer's, der die jüngste Tochter vom Ulmer Buchhändler Kerlen zur Frau hatte. Die eine Schwester Götz war gleichzeitig mit mir an der Mädchenberufs- und Fortbildungsschule als Lehrerin für Handarbeiten. Diese Schule hatte einen guten Ruf in Würzburg und ihren strebsamen Schülerinnen habe ich gern Religionsunterricht gegeben. Mit einigen bin ich noch lang in Beziehung gestanden. Mein Liberalismus war ein sehr gemäßigter, ich hatte viel zu viel Sinn und Verständnis für die alten Bekenntnisse unserer Kirche, als daß ich sie wie andere, z.B. Knote und Reissingen, abgelehnt hätte. Allerdings nahm ich mir die Freiheit und beharrte immer darauf, mir die einzelnen Stücke der Bekenntnisse, die anderen unannehmbar schienen, in eigenem Sinn zu deuten. Mir hat die Benützung der alten Bekenntnisse im Gottesdienst oder in den Kasualien niemals Schwierigkeiten gemacht. Dagegen waren mir die superorthodoxen Bekenntnisfreunde mit ihren schroffen Urteilen, etwa über Geyer, immer ziemlich zuwider.

Einen besonderen Eindruck machte auf uns das verschiedentliche Auftreten Friedrich Naumann's, dieses glänzenden Redners und geistvollen Politikers, von dem jedes Wort ins Rechte traf. Er begeisterte uns so für sein national-soziales Gedankengut, daß wir regelmäßig einen Nachmittag zusammen in einem Café eine Lesestunde seiner Zeitschrift „Die Hilfe" hielten. Auch Damaschke gewann uns mit seiner Beredsamkeit für seine Bodenreform. Es war nach allen Seiten hin ein geistig reges Leben, auch durch meine Freundschaft gekennzeichnet, die mich mit Bundesbruder Dr. Ferdinand Fischer und seiner Frau Agnes, geborene Wahnschaffe, verband. Das waren auch geistig hochstehende Leute, in deren Haus ich wie ein Bruder verkehren durfte. Er war Assistenzarzt an der Universitäts-Augenklinik. Durch Fischer's lernte ich nicht nur noch näher Gottfried Keller, sondern besonders auch Ricarda Huch in ihren Schriften kennen und dauernd hochschätzen. Die ersten drei Fischer's Töchter habe ich auch getauft. Es war ein wunderschönes Zusammensein mit ihnen am Schottenanger, in der damals noch überaus glücklichen Ehe.

All das überragte aber in seiner Bedeutung für mich die Beziehung zu der Witwe des 1907 verstorbenen prominenten Oberbibliothekars an der Universität Dr. Dietrich Kerlen: Frau Anna Kerlen. Meine aufrichtige, warmherzige Teilnahme bei dem Tod ihres Mannes, der sie zutiefst traf, gewann ihr Herz für mich. Ich verkehrte fast täglich in ihrem Haus und besprach mit ihr alles, was mich irgendwie bedrängte. Sie war ungewöhnlich religiös interessiert, sodaß sie z.B. in der Frühe bereits ihrem Mann sagen konnte: „Ich möchte nur wissen, wer das Johannes Evangelium geschrieben hat." Wir lasen zusammen die neuesten Kommentare und Predigten. Sie sprach mit mir über die meinigen. Sie hat in diesen Jahren den stärksten Einfluß auf meine religiöse und sonstige Entwicklung ausgeübt. Zwei Persönlichkeiten, die fast niemand kennt, haben auf sie und durch sie auf mich den tiefsten und bestimmendsten Einfluß ausgeübt: Nagel, ein Jurist in Hamburg, und vorallem Hülsmann, Religionslehrer in Wuppertal. Mit beiden war Frau Dr. Kerlen durch deren Schriften bekannt geworden. Wie diese beiden Weitschaft, höchste Bewertung der Ethik, hohe geistige Bildung und Herzensfrömmigkeit miteinander verbanden und die alten Glaubenslehren der Kirche in neuer Weise deuteten, das war für mich jedenfalls geradezu einzigartig. Aufs Tiefste bedauere ich heute noch, daß mir die Bücher von diesen beiden Persönlichkeiten und der sehr reichhaltige gegenseitige Briefwechsel mit Frau Kerlen verbrannt sind. Sie war damals etwa 56 Jahre alt, eine überaus stattliche Dame mit wundervollen, gütigen Augen, die ihr freilich viel zu schaffen machten. Obwohl sie fast taub war, hatte sie einen großen Bekanntenkreis. Keiner ging je von ihr ohne Trost und hilfreiches Wort fort. Eine so bedeutende weibliche Persönlichkeit mit so hoher Intelligenz, so straffer Zucht, so warmen Herzen und so reicher Bildung ist mir nicht mehr begegnet. Sie hat mich wie einen Sohn geliebt. Sie war zugleich auch politisch aufs Höchste interessiert und durch ihren Vater, Karl Brater, einen großdeutschen Politiker, für das großdeutsche Reich aufs Höchste eingenommen, sodaß sie 1933 Hitler als den Führer dazu herzlich begrüßte und dauernd dabei blieb. Sie ist erst mit 91 Jahren gestorben (1942). Sie war ein ganz seltener Mensch, auf den ich an ihrem 60. Geburtstag in Beziehung auf mich die Verse Frommel's anwandte: „War's kein Engel, den Er sandte, / als mein Herz vor Sehnsucht brannte, / hat er doch auf meiner Bahn, / eines Engels Dienst getan." Durch sie wurden wir auch mit ihrer feinsinnig schlichten Schwester, der Schriftstellerin Agnes Sapper, und deren Familie bekannt und befreundet. Auch mit anderen Persönlichkeiten, ich denke vor allem an den Bankdirektor Albrecht und seine Familie, nahmen wir lebenslange Beziehungen auf. Gerne denke ich auch an Geheimrat Krück, den angesehenen Rektor des Realgymnasiums, der mich auch noch später brieflich in meinen Nöten mit den Bauern aufrichtete. So ging allmählich im Jahre 1910 die außerordentlich schöne und gewinnreiche Zeit in Würzburg zu Ende. Im Juni dieses Jahres machte ich mein zweites theologisches Examen, wo Bezzel zum ersten Mal den Vorsitz hatte. Er lud mich auch einmal abends zu sich und bot mir dabei, was sehr selten bei ihm war, das bundesbrüderliche Du an. Ich frug ihn, ob ich mich auf das ständige Vikariat Filke melden könne, auf das mich Wilhelm Stählin aufmerksam gemacht hatte. Da schwärmte mir Bezzel von der einzig- und eigenartigen Schönheit der dortigen Rhön vor. Dann frug ich ihn auch, ob ich in der Frühpredigt in St.Johannis, zu der ich erst in Ansbach aufgefordert wurde, meine Predigt nicht kürzen könne, da mir die schriftliche zu lang erschien. Er äußerte dagegen nichts, sodaß ich seine Zustimmung zu haben glaubte. Doch trug es mir einen ziemlichen Tadel des Referenten ein. Damals mußten wir unsern Lebenslauf noch lateinisch verfassen. Das hat Bezzel dann, wohl wegen unseres haarsträubenden Lateins, abgeschafft. Viel war ich auch bei diesem Examen mit Wilhelm Stählin zusammen. Er war vorher ein halbes Jahr in Würzburg wegen Fertigung seiner religionspsychologischen Doktorarbeit bei Professor Külpe. Interessant und treffend war damals Külpe's Urteil über Stählin, von dem mir später Sodeur erzählt hat: „Stählin fehlt die wissenschaftliche Demut." Külpe, ein Balte, war wegen seiner hervorragenden wissenschaftlichen Leistung und als Mensch in Würzburg hoch angesehen. Er kam bald nach München, starb aber dort schon nach wenigen Jahren und wurde von dem ihm befreundeten Sodeur beerdigt. Durch Frau Kerler lernte ich auch Külpes, ihn und seine zwei Schwestern kennen und schätzen. Sein Nachfolger in München wurde der bedeutende Philosoph und Religionspsychologe Theodor Lipps; der mich durch seine Schriften stark beeindruckte und mein Interesse an allen psychologischen Fragen weckte.

Sofort nach dem Examen verlobte ich mich mit Ilse Perschmann, der Tochter eines in Würzburg lebenden Superintendenten, Friedrich Perschmann. Ihre Brüder waren meine Buchhändler, Siegfried und Walther Perschmann. Auf einer Versammlung des Evangelischen Arbeitervereins, dessen Vorstand ich war, sah ich sie im Herbst 1909 neben ihrer Mutter sitzen. Da kam mir blitzartig der Gedanke und die Gewißheit: „Die wird deine Frau!" So sehr ich mich dagegen wehrte, die Gewißheit wurde nur immer stärker. Als ich ihrem Bruder Siegfried sagte: „Herr Perschmann, ich interessiere mich für Ihr Fräulein Schwester.", erwiderte er betroffen: „Ist das Ihr Ernst?" Er lud mich dann öfters mit Ilse zu sich und gab uns so die Gelegenheit, uns näher kennen zum lernen. Es war eine selten schöne Zeit, wenn wir uns begegneten. Ilse hatte zunächst ja keine Ahnung von meinem Vorhaben und ihr Vater wollte nichts recht davon wissen wegen meines modernen Standpunktes. Aber Frau Kerler riet meiner Schwiegermutter, die sich an sie über mich gewandt hatte, gut zu und war auch da mein guter Geist. Am 25. September 1910 war die Hochzeit in St. Stephan und im Hotel Schwan. Mein Vetter und Pate Willy Gibson traute uns. Es war ein strahlender Sonntag. Es war ein großes Gottesgeschenk und eine allezeit gesegnete Fügung, obwohl uns Kinder, die ich mir so gern gewünscht hätte, nie geschenkt wurden: Das kam, wie sich in der Klinik in Würzburg nach einem Abgang um Weihnachten herausstellte, von dem Uterus unicornis bei meiner Frau. Der alte Sanitätsrat Huber in Fladungen, unser Hausarzt, meinte damals: Ob das kirchliche Bewußtsein uns da weiteren ehelichen Verkehr gestatte, müsse er mir überlassen. Dazu möchte ich im Hinblick auf die evangelische Ethik folgendes sagen: Benno sagte mir einmal, er empfinde die kirchliche Lehre von der Konzeptio immaculata als eine Schmähung und Herabwürdigung des ehelichen Verkehrs. Er hielte es eher mit Goethe's Wort aus „Hermann und Dorothea" von der Mutter an den Sohn Hermann bei seiner Verheiratung mit Dorothea: „Daß dir werde die Nacht zu schöneren Hälfte des Lebens." Das hätte wohl auch Goethe's so sinnenfreudige Mutter zu ihrem Sohn Wolfgang sagen können. Nun ist das wohl aus dem Mund gerade der Mutter an den Sohn ein etwas starkes Stück, das prüde Theologen des 19. Jahrhunderts ihm als höchst unschicklich und unsittlich vorwarfen. Aber es ist etwas Wahres daran. Die eheliche Vereinigung ist nach Leib, Seele und Geist in ihrer völligen Hingabe aneinander etwas so Einzigartiges, daß es in gewissem Sinn die Kulmination des ehelichen Verhältnisses darstellt und auch ohne jede Absicht und Wirkung der Empfängnis für sich einen höchsten Wert bedeutet. Sie entspricht in ihrem animalischen und geistigen Gehalt der Kondeszendenz-Theorie, die unsere ganze evangelische Theologie bestimmt. Sie hat also auch ihr Recht und ihre Bedeutung, wenn Kinder versagt bleiben. Die Sache hat mich natürlich viel beschäftigt, aber das ist mein Urteil darüber nach reiflicher Überlegung.

In Filke, wo wir am 1. Oktober 1910 aufzogen, war es ein steiniger Boden. Unser alter Fleischmann, der uns dann immer den Garten umgrub, sagte mir einmal: „Herr Pfarrer, bei uns wachsen die Steine." So war es auch geistig. Die Gegend war auch zu stark von Thüringen her bestimmt. Der Kirchenbesuch war mäßig, nur bei Festen, Beerdigungen und Abendmahlsfeiern war alles da. Ein alter Bauer sagte mir einmal: „Wenn man alt ist, muß man sich mit dem lieben Gott befreunden." Und ein anderer verstieg sich sogar zu der Äußerung: „Herr Pfarrer, mir ist es gleich, wo ich hinkomme, ob in den Himmel oder in die Hölle, überall finde ich Gesellschaft aus Filke." Der Einzige in seiner Frömmigkeit wirklich fromme und vorbildliche Christ in Filke war ein Darbyst, der Polizeidiener und Schuster Schanz, der in den neunziger Jahren bei einer Werbung der Darbysten aus der Kirche ausgetreten war. Ich nahm ihn oft auf meinen Fahrten nach Fladungen mit. Es ist kirchlich verständlich, tut mir aber heute noch leid, daß ausgerechnet diesem frommen Mann bei seiner Beerdigung der Kirchenvorstand das Trauergeläut und den Gottesdienst in der Kirche verweigerte. Es war nach meiner Zeit, aber ich hätte es wohl auch nicht verhindern können, da es den gesetzlichen Bestimmungen entsprach. Sehr lieb war mir der Dienst in der Diaspora um und in Fladungen, wo ich 1911 in einer Wohnung richtige urchristliche Gottesdienste einrichtete. Da war uns besonders die Familie Stöcker des dortigen Gendarmen und die Familie Gué in Hausen behilflich und besonders liebe Freunde. Noch heute sind wir mit ihnen befreundet. Von der letzteren Familie hatten wir ein Vierteljahr zur Konfirmation deren Tochter Mariechen, ein reizendes Mädchen, bei uns ganz im Hause. Als Filialen hatte ich die Tochterkirchengemeinden Sands und Weimarschmieden. In Sands hatten sie ein sehr hübsches, durch meinen Vorgänger Glenk erneuertes Kirchlein mit einer recht guten Orgel. Beide Orte waren kirchlich und sonst recht verschieden. In Weimarschmieden lebte ein sehr leichtes, aber anschmiegendes Völklein. In Sands waren sie zurückhaltender. In Weimarschmieden war auch ein Kindergarten mit einer Neuendettelsauer Schwester. Mit den Schwestern dort verband uns zeitlebens eine herzliche Freundschaft, besonders mit Sofie Hermann, einer ganz prächtigen Bauerntochter aus dem Ries. Auch im Meiningischen Schmerbach hatte ich Gottesdienst zu halten, zu dem mich der Superintendent von Meiningen, Angelroth, ziemlich formlos einsetzte. Zu Konferenzen bin ich dorthin nie gekommen. Der Besitzer des dortigen großen Gutes war ein großspuriger, ziemlich zuchtlos lebender Mann namens Grosser. Seine Frau war ganz kirchlich und warmherzig. Er hatte z.B. den Spleen, in Champagner zu baden und behandelte seine Leute sehr von oben herab. Während des Krieges hatte ich noch die Nachbarpfarrei Willmars mit Neustädtles und Völkershausen zu versehen. Der dortige mit uns befreundete Kollege Wolf war gleich zu Beginn als Militärgeistlicher eingezogen worden. Wolf, ein Maurerssohn aus Erlangen, war ein trefflicher Bauernpfarrer, theologisch wenig interessiert, aber mit dem Herzen auf dem richtigen Fleck. An ihm sah ich, wie auch Menschen aus einfachen Schichten durch den Dienst der Kirche innerlich gehoben und geadelt werden. Überall stand ich mit den Lehrern, bei denen ich ja noch Lokalschul-Inspektor war, in guten Beziehungen. Nur mit einem in Weimarschmieden, Hückmann, gab es wegen seiner rohen Schlägerei Schwierigkeiten. Aber sein Sohn wurde auch Pfarrer bei uns in Bayern. Trotz all der vielen Arbeit konnte ich mich von meinen theologischen Neigungen nicht trennen. Ich schaffte mir allmählich den ganzen Schleiermacher an und las ihn auch bis auf seine „Dialektik", die mir zu schwer war. Von seinen Predigten habe ich viel gelernt. Auch die ersten Bücher des damals bekannt werdenden Professor Heim studierte ich, sie galten dem Problem der Glaubensgewißheit. Tiefer beeindruckt hat mich Heim aber nie. Als er später ein Büchlein schrieb über „Die Weltanschauung der Bibel" meinte der alte Geyer, das sei nicht die Weltanschauung der Bibel, sondern die von Professor Heim. Von Wilmars aus kamen wir auch in nahe, sehr liebenswürdige Berührung zu den Familien Graf von Soden in Städtles und Baron von Stein in Völkershausen. Schönste Erinnerungen verbinden sich mit ihren Familien. Ich hatte durch die Vertretungen in Wilmars sonntags oft fünfmal zu predigen. Wagen und Pferd, die ich mir 1913 verschaffte, erleichterten es mir. Viel kamen wir mit den liberalen Kollegen in Thüringen (Förtsch/Ostheim, Dahinten/Hermannsfeld, Koch/Sontheim und anderen) zusammen, während mir die orthodoxen Lutheraner Sintenis in Meiningen und Luther in Römhild trotz ihrer ernsten Art wenig zusagten. Aber ganz befriedigte mich auch nicht der theologische Liberalismus von Thüringen. Es fehlte die Wärme und das Verständnis für die Kirche. Persönlich waren die Beziehungen mit den thüringer Brüdern aber immer herzlich. Im allgemeinen beschäftigten uns bei unserem Zusammenkommen die Religionsgeschichtler Johannes Weiß, Wernle, Köhler und Weinel in Jena. Von Letzterem weiß ich aus einem seiner Vorträge noch den Satz: „Meine Herrn, die Bibel muß man mit geflügeltem Geist lesen." und Tröltsch sagte bereits 1913 auf einem Kongreß: „Meine Herrn, es wackelt alles!"

Meine Frau sammelte immer sehr lieb die Kinder um sich und sang mit ihnen. Sie war immer der gute, treue Geist meines Hauses. Nicht vergessen darf ich unser in seiner Art einzigartiges Hausmädchen Alma, das seit 1913 mit uns verbunden ist, ein richtiger Engel unseres Hauses. Zu dem „Doktor", den ich über den „Mauerschedel", (eine alte Kirchenruine im Tal neben uns) und die Christianisierung durch Bonifazius machen wollte, kam ich wegen der dienstlichen Arbeit nicht. Zum Musizieren mit meiner Frau kamen verschiedentlich die Lehrer der Gegend. Daß sie im Krieg, außer Mezger, alle gefallen sind, war uns ein großer Schmerz. Der Krieg kostete mir auch viel Korrespondenz mit den im Feld stehenden jungen Leuten. Es fielen in Filke allein vielleicht 10 bis 20, darunter ohne Zweifel die Besten. Einmal sagte mir eine Filkener Frau: „Der Krieg macht mir nichts aus; ich habe schon viel Not in meinem Leben erfahren." Die Leute mußten sich auch alle in einem kärglichen Leben viel plagen und es gab viel Streit in den Familien und untereinander, so schön und friedlich der Ort im Talende auch dalag. Ihre Welt war eine kleine, aber doch der Einzelne reizvoll und originell. Nicht wenige waren im 19. Jahrhundert nach Amerika oder anderswohin ausgewandert und hatten dort ihren Mann gestellt. Die jungen Leute gingen viel in die Gewehrfabriken nach Suhl und nach Schweinfurt zur Arbeit und kamen nur übers Wochenende nach Hause. Vorehelichen Verkehr gabs weniger, er wurde aber kirchlich sehr streng durch besondere Plätze in der Kirche gerügt. Die Verhandlungen und Schlichtungen der vielen Streitigkeiten waren nicht angenehm. Der Pfarrer wurde wie ein Polizeidiener, den man fürchtete, angesehen. Aber oft hieß es: „Ist es uns so ergangen, so darf es bei den anderen auch nicht besser gehen." Einmal bat mich unmittelbar vor dem Pfingstgottesdienst eine Frau um Hilfe, weil sie der Mann mit dem Beil bedrohte. Von meinen Vorgängern hat es entschieden Klaus Glenk am besten mit den Leuten verstanden. Mein Nachfolger, der tiefinnerliche, fromme und gelehrte Ammon, später Dekan in Bayreuth und Thurau, war todunglücklich dort. Von meinen Nachfolgern hat seelsorgerlich am besten Kurt Horn mit seiner Frau Lotte, meiner Nichte, dort gewirkt.

Nach genau sieben Jahren schied ich von Filke. Der Hauptprediger D.Dr. Christian Geyer in Nürnberg hatte mich aufgefordert, mich nach Nürnberg auf Heilig-Geist III zu melden, und der Stadtmagistrat, der damals noch das Patronat hatte, wählte mich. Meine Frau und Alma waren todunglücklich. Meine Frau sagte: „Überall hin, nur nicht nach Nürnberg!" Ich schied Ende August 1917 sehr betrübt in dem Gefühl, in Filke gar nichts erreicht zu haben. Erst Jahre später erfuhren wir von der Anhänglichkeit der Filkener an uns. Am schwersten wurde mir der Abschied von meinem Pferd.
In Nürnberg war wegen des Krieges die Rübenzeit angebrochen und die Haushaltsführung wurde infolge der Lebensmittelkarten sehr schwer. Aber es ging. Der Mensch gewöhnt sich an alles. Nur Ilse und Alma weinten viel dem ruhigen Leben in Filke nach. Bei der Installation hielt mein Bruder für den Oberbürgermeister Geßler die weltliche Einführung. Die geistliche nahm der damalige Dekan Hermann, ein Conphilister, vor. Zu Mittag gabs bei den Eltern noch einmal eine Gans, die wir aus Filke mitgebracht hatten. Als ich Johannes Volkert, der der Dekan der Lorenzer Seite war, besuchte, meinte er: „Du wirst hier noch manches Haar in der Suppe finden." Erster Pfarrer von Heilig-Geist war Julius Schiller, hochmusikalisch und künstlerisch, aber eitel und oberflächlich, ein „glänzender Abschriftsteller", wie ihn Bildhauer Zadow nach einem Zeitungsartikel, der von einer Predigt Rittelmeyer's durch Schiller abgeschrieben worden war, nannte. Er schrieb viel in die Zeitungen, benützte aber dazu gern die Schriften anderer. Wir hatten zu ihm nie ein näheres Verhältnis. Schoner war der zweite Pfarrer, ein lieber, eifriger Kollege und Bundesbruder mit einer größeren Personalgemeinde von seiner Stadtmissionstätigkeit her. Nach Schiller's Emeritierung kam ich 1924 auf die zweite Pfarrstelle und Schoner wurde Pfarramtsführer. Nach dessen Ruhestandsversetzung im Jahre 1930 kam ich auf die erste Pfarrstelle von Heilig-Geist. Dazwischen hatten wir als Verweser verschiedene Vikare, von denen uns namentlich Bosch ein sehr lieber Kollege wurde. Der Ersatz für Schiller und Schoner waren Friedrich Bauer und Gottlob Müller. Besonders mit ersterem und seiner Familie hatten wir sehr herzliche Beziehungen. Müller kümmerte sich sehr eifrig und menschlich um die Glieder seiner Gemeinde. Ihnen äußerlich zu helfen, war ihm kein Gang zuviel. Bauer und seine Frau waren sehr feinsinnige und vielseitig gebildete Leute. Er war auch dichterisch und zeichnerisch fein begabt. 1934 kam Hubert Sondermann zu uns als dritter Pfarrer. Mit ihm und seiner Familie entwickelte sich auch ein sehr herzliches Verhältnis. Er war ein gedankenreicher, manchmal etwas explosiver Prediger, innerlich und tiefgründig, ein trefflicher Seelsorger. Alle drei verloren im zweiten Weltkrieg je einen Sohn. Ich kann sagen, daß unser Verhältnis untereinander für die Pfarrer von Nürnberg allezeit vorbildlich gut war. Mir ging es namentlich darum, niemand durch die äußere Altersüberlegenheit zu bedrücken. Ich gab jedem in seiner Tätigkeit und in seiner Eigenart völlig freie Hand und ließ niemand unter mir leiden. Mein Grundsatz war immer: Nicht eigene Ansprüche stellen, sondern die Ansprüche der anderen befriedigen. Auch meiner Frau war das ein gleiches Herzensbedürfnis.

Ein ausnehmend schönes und gewinnreiches Verhältnis entwickelte sich mit Christian Geyer und Julius Kern, die mich auch in die Redaktion von „Christentum und Gegenwart" hineinzogen. 1918 wurde ich auf Geyer's Veranlassung Kern's Nachfolger als Herausgeber dieses Blattes. Auch seinen Unterricht übernahm ich an der Lohmann'schen Lehrerinnen-Bildungsanstalt, woran ich und meine Schülerinnen sich noch heute gern erinnern. Kern, schon damals ein körperlich schwer behinderter Geistlicher, litt noch 12 Jahre danach in einer vorbildlich heiteren und frommen Weise an multipler Sklerose. Hier pflegte ihn in einzigartiger Weise seine Mutter. Einem solchen innerlich feinen und reichen Mann bin ich in meinem Leben nicht mehr begegnet. An ihm bewahrheitet sich in jeder Form Schleiermacher's Lieblingslied „Es glänzet der Christen inwendiges Leben." Jeder, der ihn kannte oder mit dem er zu tun hatte, verehrte ihn aufrichtig und tief, als er mit etwa fünfzig Jahren starb.

Geyer loben hieße Eulen nach Athen tragen. Eine solche theologisch und namentlich pädagogisch und sonst allseitig gebildete, lebendige und warmherzige Persönlichkeit hat es nicht mehr leicht gegeben. Dabei erkannte er auch den weniger Gebildeten freudig an und weckte seine guten Eigenschaften. Er war in seiner „genaturten Heiligkeit" eine einzigartige Erscheinung. Für alles Echte und Neue hatte er einen unglaublichen Spürsinn. Er konnte auch tiefste Gedanken und Probleme in einer dem einfachsten Menschen faßlichen Form darstellen. Bilder und Gleichnisse standen ihm dafür in Fülle zur Verfügung. Das machte auch seinen Unterricht für alle seine Schülerinnen zu einem großen Erlebnis. Durch ihn gewann das Lohmann'sche Institut seinen guten Namen und sein großes Ansehen in der Stadt. Etwa 1920 machte uns Georg Merz mit Karl Barth's Römerbrief bekannt. Das war für uns alle, namentlich für Geyer, ein tiefer Einschnitt. Unter Geyer's Führung, der damit seine anthroposophischen Neigungen überwand und uns aus unserem bisherigen liberalen Kultur-Protestantismus herausriß, wurde unsere Stellung zu Kirche, Heiliger Schrift und Bekenntnis eine beglückend neue und positive. Geyer wurde uns voran ein „Lutheraner höherer Ordnung". Eine neue Freudigkeit zu all unserer Arbeit in der Kirche wurde uns geschenkt. Wir entdeckten den Wert und die Bedeutung der alten Kirchenlieder. Eine Wendung um 180 Grad erfolgte. Es lag auch in der Luft nach den Erlebnissen des ersten Weltkrieges. In der Luft lag die Wendung zur Wiederauferstehung der Metaphysik. Das Kritische blieb, aber die Maßstäbe veränderten sich. Geyer konnte sagen: „Wir haben über der Kritik der Bibel die Kritik der Bibel an uns vergessen." Und „Die Apostel und Propheten haben mehr gesehen und gehört, als die Professoren an der Universität." In den von Geyer eingerichteten Diskussions-Abenden durfte ich ihm oft assistieren, nach seinem Tod übernahm ich sie ganz. Ortloph hielt Vorträge an der Volkshochschule. Auch sie übernahm ich 1946 bis 1957, desgleichen die Leitung der Pastoralkonferenz. Daneben kam die Arbeit in der Gemeinde und im Diakonieverein, den ich seit 1930 leitete und für ein Altersheim in der Blumenstraße mit dem unvergeßlichen Paul Welck gewann. 1939 zum sechshundertsten Jubiläum des Heilig-Geist Spitals ließ ich durch Bestelmeier einen neuen Steinaltar und durch Wiedel die obere Sakristei mit dem schweren Eichenschrank für die Reichskleinodien herrichten.

Viel Freude machte mir der Unterricht und der Kindergottesdienst. Durch ersteren kam es zu einem jugendlichen Kreis der „Christdeutschen", durch den letzteren zu regen Beziehungen mit der Gemeinde. In der Seelsorge pflegte ich namentlich das rein menschliche Element. Für das Geistige hatten die meisten wenig Sinn. Ich war da auch wohl zu wenig draufgängerisch und zu vorsichtig. „Christus hat nur angeklopft, / nie die Türen aufgerissen, / und am allerwenigsten / je die Tore eingeschmissen." (Dichterpfarrer Knoth). Nur wo es verlangt wurde oder ich ein Verlangen spürte, betete ich mit den Leuten. Doch habe ich an Schwerkranken manche wundersame Bekehrung erlebt. Eine ganz seltene christliche Persönlichkeit habe ich in der Rotschmiedsgasse kennengelernt und viel besucht. Das ganze Haus war durch sie geweiht. Sie war in der Jugendzeit durch einen Sturz aus dem Fenster beim Putzen zeitlebens an ihren Armen schwer beschädigt und hatte nur eine kleine Rente. Aber ein so sonniges, sauberes Stübchen und einen solchen innerlich geläuterten Menschen habe ich nicht mehr erlebt. Doch habe ich in der Gemeinde nicht wenige in ihrer Arbeit und in ihrem Leben treffliche, einfache und gebildete Menschen kennengelernt, sodaß ich oft zu den jüngeren Amtsbrüdern sagte: „Macht mir den Menschen nicht zu schlecht!"

Nach Geyer's Tod (23.12.1929), dem ich die Grabrede hielt, und Michaelles's Pensionierung wurde ich Kandidaten -Vater und -Senior (1930 - 35). Dekan war von 1920 bis 1935 Erhard Weigel, ein gescheiter Mann und gewandter Redner, aber ohne rechtes Rückgrat. So kam Schieder 1935 als Kreisdekan an seine Stelle und Ortloph und ich wurden seine Prodekane für die Lorenzer und die Sebalder Seite. Es war ein gutes Zusammenarbeiten, doch kümmerte sich Schieder wenig um die Abgrenzungen in der Arbeit. In der Kirchenkampf-Zeit (1935 - 39) entwickelte Schieder seine ganze Größe und Eigenart als bekenntnistreuer Kämpfer. Er gewann, bis auf eine kleine Schar „Deutscher Christen", ganz Nürnberg für die Bekenntnisfront und hielt mit seinen Ansprachen und seinem Vorbild die ganze Linie. Als Berlin seine Verhaftung verlangte, hielt der Polizeipräsident Martin schützend seine Hand über ihn, wie mir eine Telefonistin aus unserem Mädchenstudienkreis selbst sagte. Freilich, wie oft mußten wir Besuche der Gestapo empfangen und wie oft richteten wir uns zur Verhaftung her. Die „DC" forderte unser aller Absetzung, aber gegen Schieder setzten sie sich nicht durch. Wie ein alttestamentlicher Prophet überschüttete er die Gegner mit seinen Warnungen. Ich erinnere mich noch an eine nächtliche Sitzung mit Holz und Martin, wo Schieder mit blitzenden Augen Holz an seine Todesstunde erinnerte. Auch später waren wir einmal mit Oberbürgermeister Liebel, einem übrigens vornehmen und anständigen Gegner, zusammen, wobei er uns durchblicken ließ, daß er über Holz und Streicher nicht hinaus könne. Es waren Schieder's große Jahre und seine einzigartige Bedeutung für Nürnberg. Alle Bekenntnisgottesdienste waren überfüllt. Freilich, die unter dem Druck der Nazi gewählten Kirchenvorstände waren keine erfreuliche Erscheinung. Die Nazis unter ihnen sind auch bald aus dem Kirchenvorstand und der Kirche ausgetreten. Allmählich leerten sich auch die Kirchen wieder mehr. Die vielen Geschäftsleute der Stadt waren recht opportunistisch eingestellt. Doch hörten wir immer wieder dazwischen Bemerkungen wie die: Die einzige Stelle, wo man jetzt noch die Wahrheit hören könne und vernünftige Reden gesprochen würden, sei nur die Kirche. Natürlich mußte das Telefon unter Kissen versteckt werden und wir selbst mußten sehr vorsichtig in den Gesprächen sein. Allerdings von den Greueldaten in den KZ's wußten wir nichts. Es war keine schöne Zeit. An allen Parteitagen ging ich wie eine Kassandra durch die Menge und dachte mir: „Wann werden wir die Quittung dafür empfangen!?" Mir war Hitler von Anfang an verhaßt, seit ich ihn im November 1923 mit Ludendorff durch die Straßen an der Lorenzkirche habe fahren sehen. Ich sah ihn dann nie mehr wieder. Die Vereidigung der Pfarrer auf ihn, die ich vornehmen mußte, war mir eine schwere Belastung. Aber auch einen Stich gab es mir durchs Herz, wenn wir beim Bekenntnis-Gottesdienst am Schluß sangen: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib", denn jetzt wurde es damit Ernst. Auch das Verhältnis zu den Lehrern, das sonst im Ganzen ein recht gutes war, wurde gespannt. Viele entdeckten ihre Kirchenfeindlichkeit. Bis auf wenige war eben doch das Volk im ganzen hingerissen vom Führer. Mit Schieder fand ich es entwürdigend, wie sich bei der Pfarrerversammlung mit Streicher die Kollegen zum Teil um diesen brutalen und rüden Patron, der sich hier jovial gab, drängten. Hier legte übrigens Daumiller, der als kirchlicher Kommissär bei uns wohnte, ein sehr geschicktes, lebendiges Zeugnis für die Kirche ab, sodaß Streicher sogar sagte: „Solche Leute könnte ich in der Partei brauchen."

Mit dem Krieg traten diese Kämpfe zurück. Die ersten Siege erschreckten Schieder so, daß er darin das kommende Unglück ahnte, gemäß dem Wort Luther's: „Die Schweine, die Gott schlachten will, mästet er zuvor." Mir ging es ähnlich. Dann mehrten sich die Trauergottesdienste für die Gefallenen. Je häßlicher sich die Propaganda Göbbel's gab, um so mehr sank die Begeisterung. Die Bombenangriffe mehrten sich. Die erste Kirche, die in Trümmer fiel, war die Kraftshofer, wo sich Freymann zur Rettung der Kunstschätze persönlich außerordentlich bemühte. Dann kam der Bombenteppich auf Wöhrd. Schließlich wurde auch die Lorenzkirche schwer getroffen, sodaß die Lorenzer Gemeinde ihre Gottesdienste bei uns in Heilig-Geist hielt. Am 2. Januar 1945 wurde die ganze Altstadt zerstört. Von unseren 10.000 Einwohnern in Heilig-Geist blieben 200 übrig und zurück. Wir fanden in der Nacht eine kärgliche Unterkunft bei dem Gemeindeglied Engelhardt auf der Vorderen Insel Schutt. Ihre Tochter Frieda bettete uns schließlich in einer Rumpelkammer nebenan und ich hatte mit meiner Frau das Gefühl: „Wenn ich nur dich habe." Dort bei Engelhardt's hielten wir danach auch die ersten Gottesdienste, zu denen etwa 15 Leute kamen. Mein letzter Einblick in die Kirche sah ein entsetzliches Flammenmeer. Die Beerdigungen auf dem Südfriedhof waren neben einer unzähligen Reihe von Gräbern mit weißen Holzsärgen. Treffliche Familien sind damals ausgelöscht worden. Gänge durch die zerstörte Gemeinde waren nicht mehr möglich, so lagen die Trümmer und schwelten die rauchenden Flammen umher. Das war das Ende und die Strafe für die Niederreißung der Synagoge durch Streicher. Die ersten vierzehn Tage nachher wohnten wir bei meinem Bruder Johannes in Erlenstegen. Dann fanden wir fünf Jahre Unterkunft bei dem früheren Schulfreund Braun in der Grimmstraße 22, der eben an einem Herzschlag gestorben war. Dort sahen wir am 16. April 1945 die ersten Amis. Da entdeckte ich den Wahnsinn dieses Krieges mit fast der ganzen Welt, als ein amerikanischer Jeep mit der Nummer über 2 Millionen vorbeifuhr. Als die Amis unter Schüssen auf die verschlossene Haustüre, die uns beinahe getötet hätten, ins Haus einbrachen, erbleichte der Mitbewohner Amtmann Steeghöfer, da er PG. war. Ich blieb ganz ruhig, mich bewegte nur das Psalmwort: „Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten und hilft ihnen aus." Es geschah uns auch nichts. Nur ein Schuß durchs Fenster in der Nacht hätte mich am Schreibtisch fast getötet, wenn ich nicht eben vorher zu Bett gegangen wäre. Zuerst wohnte bei uns noch unser treuer Diakon Schemm, bis er plötzlich an einem Darmverschluß starb. Trotz des „off limits" mußten wir für zurückkehrende amerikanische Fronttruppen für 14 Tage in das gegenüberliegende Haus uns umquartieren, wo wir über diese Zeit auf dem Fußboden des Zimmers schliefen. Ilse hatte neben anderem viele gute Weine von meinem Vetter Paul aus unserem Keller gerettet und ich freute mich dessen. Aber auf einmal wollten die Amis die Zentralheizung, in der ich den Wein versteckt hatte, anzünden, entdeckten die Flaschen und tranken den Wein. Auch mein Rad, das ich bisher gerettet hatte, nahmen mir in Erlenstegen Italiener ab. Wie schwer war nun in die Stadt zu kommen, da natürlich keine Straßenbahn ging. Sonntagsgottesdienst hielt ich nur alle vierzehn Tage in der Turmhalle der Lorenzkirche, die allein noch einigermaßen unzerstört war. Die beiden Pfarrer Müller und Sondermann waren schon vorher weggezogen, jener nach Kalchreuth, dieser nach Matthäus. Unser Diakon Schemm tat uns ausgezeichnete Dienste, in dem er aus dem Schutt der Sakristei unsere gesamten Matrikeln ausbuddelte und so rettete. Sein Tod war uns ein sehr großer Verlust und Schmerz. Seine tatkräftige Natur hätte uns noch viel retten können. Hatte er sich doch in all den Jahren an der Gemeinde trefflich bewährt, genauso wie unser blinder Organist Sutter, der ein sehr guter und kirchlicher Musiker war. Er kam dann nach Eibach und ist dort leider wenige Jahre danach gestorben. Seine Frau folgte ihm nicht lange danach in den Tod.

Als Ortloph 1945 in Pension ging, übernahm ich auch dessen Prodekans-Arbeit. So lernte ich alle Kandidaten und Katechetinnen der Stadt kennen. Mit allen war es ein sehr schönes Arbeitsverhältnis. Natürlich war es zunächst mit aller theologischen Arbeit aus. Hier muß ich nachholen, daß ich in den zwanziger Jahren durch Geyer mit den Werken der russischen Religionsphilosophen Solovjeff, Schestow („Auf Hiobs Waage"), Berdjajew und vorallem auch Dostojewski in seinen Romanen bekannt wurde. Darüber hielt ich auch verschiedene Vorträge. Von Schestow's Buch sagte Geyer in seinem Todesjahr (1929): Er danke Gott dafür, daß er ihn noch mit diesem Buch bekanntgemacht habe. Und noch ein großes Erlebnis möchte ich erwähnen. Es war im Jahre 1912, da besuchte ich mit Missionsinspektor Steck eine Missions-Konferenz in Herrenhut. Hier erkannte ich zum erstenmal, wie sich die Herrenhuter Brüdergemeinde in Wirklichkeit ausnahm. Es schien mir in der ganzen Atmosphäre, die mich da umwehte, hier ein Christentum und eine christliche Gesellschaft in Reinkultur zu sein. Auch die Abendmahlsfeiern dort machten mir tiefen Eindruck. Da herrschte eine Freudigkeit und Liebesgemeinschaft, wie ich sie sonst nirgends kannte. So merkwürdig es klingen mag: Das Göttliche und das Weltliche waren hier in einzigartiger Weise miteinander verbunden. Nur an einen Vortrag des Göttinger Kirchenhistoriker Professor Mirbt und an die Begegnung mit dem bekannten Berliner Pfarrer Siegmund Schultze, von dem ich schon an anderer Stell schrieb, erinnere ich mich gut.

Zunächst war es nahezu aus mit aller gemeindlichen Arbeit. Die ganze Gemeinde war in alle Welt zerstreut. Das traf mich doch recht schwer und ich glaubte darin das tragische Ende aller meiner Arbeit in Heilig-Geist zu sehen. 1946 holte mich die Volkshochschule zu Vorlesungen, deren Besuch zuletzt zwischen 60 und 80 Hörern schwankte, damals die höchste Besucherzahl der Volkshochschulkurse. Auch mit unserem netten Mädchenstudienkreis, der sich aus früheren Konfirmandinnen oder sonst Bekannten zusammensetzte, war es aus. Wir hatten früher darin doch durch die Lektüre, etwa auch über Goethe's „Märchen" und „Novelle", anregende Stunden. Dann beschäftigte mich nachhaltig der Wiederaufbau der Stadtmission, deren Vorsitz ich seit 1935 innehatte. Hier tat sich namentlich rühmlich Kirchenrat Veit von St. Sebald mit seinen vielen Beziehungen hervor. Er konnte manchmal sehr herrschsüchtig und eitel sein, aber er half doch unermüdlich und wir hatten in Pfarrer Jakob einen recht tüchtigen Stadtmissions-Geistlichen. Es war nach der Geldentwertung (Juni 1948) ein mühseliges, aber schließlich alles Frühere weit übertreffendes Emporsteigen. Dabei war die Seele der Stadtmission die ausgezeichnete Diakonisse Schwester Gretchen Trabert, eine menschlich und fachlich hervorragende Mitarbeiterin. Sie war etwa 40 Jahre in der Stadtmission tätig.
1952, mit 70 Jahren, wurde ich emeritiert. Ein großer Kollegenkreis scharte sich unter Schieder um uns, um uns Drei - Kern, Langenfaß und mich - zu verabschieden. Doch blieb ich noch viele Jahre mit den Kollegen, die mir alle herzlich zugetan waren, verbunden. Alle theologischen und kirchlichen Fragen interessieren mich noch brennend, namentlich studiere ich immer wieder gern Karl Barth und, wenn ich etwas für Herz und Geist brauche, greife ich zu ihm.

Das Verhältnis zum Landeskirchenrat war allezeit ein loses. Wir störten unsere Kreise nicht. Meiser und ich waren zu verschiedene Naturen, als daß wir je einander näherkamen. Ich achtete ihn in seiner Eigenart und seinem Stehen im Kirchenkampf, konnte es ihm aber nie vergessen, daß er bei einer Pfarrerversammlung 1934 für den Windhund Ludwig Müller, weil der sich lutherisch gab, gegen denn tieffrommen Fritz von Bodelschwingh, weil er uniert war, als Reichsbischof eintrat. Meiser's Menschenkenntnis war meines Erachtens gering. Dazu war er konfessionell zu gebunden. Er konnte auch Leute, die ihm geistig überlegen waren, nicht recht neben sich dulden. Ich glaube nicht, daß er viel von mir hielt und er begrüßte mich oft kaum. Er konnte meinen Durchgang durch den Liberalismus nie vergessen. Besondere Freundschaft verband mich und meine Frau mit meinem Confux Oberkirchenrat Daumiller. Er stieg oft bei uns ab und war uns sehr zugetan. Hoch schätzte ich auch in seiner profunden Tiefe OKR. Thomas Breit, der mir auch sehr zugetan war. Von Ammon visitierte mich einmal in der Lohmann'schen Lehrerinnenbildungsanstalt und stieß sich - mit Recht, wie ich später einsah - an meiner religionsgeschichtlich bedingten Darstellung David's, während Geyer, der damals mit dabei war, an meinem Unterricht Freude hatte. Ich unterrichtete auch gern und lernte dabei viel für meine Predigten, denn man mußte darstellen können. Herzlich gern erinnere ich mich auch meine Arbeit im Kindergottesdienst, die mich auch als Vorsitzenden des Bayerischen Landesverbandes mit dem Reichsverband und seinen Brüdern zusammenführte. Da lernte ich viele treffliche Brüder von Norddeutschland kennen und schätzen. Es war ein schönes Zusammenarbeiten unter Piersig und Niemann, wie hier seinerzeit mit Johannes Schmidt, mit Gloßner und Illa Hahn. Wie liebe ich doch alles menschlich Lebendige und Echte! So war mir auch immer eine Freude die verschiedentliche Begegnung mit Johannes Müller, diesem Menschen aus einem Guß, trotz der Fragwürdigkeit dessen, was er anpries.

Ziehe ich die Summe beim Rückblick, so kann ich es nur mit großer Dankbarkeit tun, gerade weil der Beruf des Pfarrers in alle menschlichen Bereiche so tiefe Einblicke schenkt und mit allen Schichten des Volkes zusammenführt. Vor allem aber, weil er uns in der Heiligen Schrift einen so untrüglichen Maßstab für den Menschen als Sünder und Gerechter gibt, liebte ich ihn und war er das Rechte für mich. Wie oft schwebte mir dabei Goethe's Wort aus der „Zueignung" vor: „Warum sucht' ich den Weg so sehnsuchtsvoll, / wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll!" Freilich, was ich versäumt und falsch gemacht habe, ist weit mehr, als was ich tat und wessen mich die Menschen liebten. Man hat mich wohl weithin überschätzt und ich habe mich in vielem überfordert. Von jedem glaube ich mehr gelernt zu haben, als ich ihm gab. Unsere Mutter sagte uns öfters: „Einer komme dem Anderen mit Ehrerbietung zuvor!" Andere durften nie unter mir leiden. Mein Grundsatz war, nicht selber Ansprüche stellen, sondern die der Anderen zu befriedigen. Gibt es doch leider unter den Pfarrern viel Konkurrenzkampf und -neid. Aber das muß ich doch noch über den Pfarrerberuf sagen: Indem er uns zwingt, ständig mit der Heiligen Schrift zu leben, erhebt er jeden, der in ihm steht, sofern er es nur einigermaßen ehrlich meint. Auch am Bauern- und Arbeitersohn merkt man es. Ich glaube keine schlechte Menschenkenntnis zu haben und sehe sehr scharf unsere Mängel und Fehler. Aber jede Vertiefung und Verinnerlichung muß ich mit Freude feststellen. Auch die Originalität und Eigenart bildet dieser Beruf sehr kräftig aus. Überhaupt bei allen nicht zu leugnenden Fehlern und Mängeln in der Kirche, bei allem „Mischmasch von Irrtum und Gewalt" in der Kirchengeschichte, welcher schlichte Dienst der Liebe und wieviel Opfer, die ihr täglich gebracht werden; das Auge Gottes gehört dazu, um es richtig einzuschätzen. Was bedeutet das für ein Volk und für die Menschheit, daß die Kirche das Höchste, was wir kennen, von Geschlecht zu Geschlecht weitergibt und der Menschheit erhält. Mag unser Dienst in ihr noch so dürftig sein, allein ihr Dasein ist der größte Segen, das untrügliche Gewissen, der höchste Schatz der Völker. Ihr Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet. Daß ich da durch Jahrzehnte mithelfen durfte, ist das größte Gnadengeschenk meines Lebens und ich kann nur beschämt feststellen, wie wenig würdig ich dessen war und wieviel treuer und ernster und fröhlicher ich hätte alles hinnehmen und ausführen müssen. „Wir sind Bettler, das ist wahr!" Aber Gott ist die Fülle alles Reichtums und aller Gnade in Jesus Christus, unserem Herrn.

Geschrieben im November und Dezember 1966	Georg Merkel

Abschrift beendet: 05.06.1995 gez. Friedrich Schriftcharakter und Layout geändert: 14.12.1995
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Wir Zwillinge
Bennos drei Söhnen, meinen Neffen, in dankbarer Erinnerung gewidmet,
Georg Merkel,
geschrieben im Oktober 1966 (in meinem 85 Lebensjahr)
abgeschrieben, gelesen und korrigiert am 27.11.1995 gez. Friedrich
eingescannt von Eberhard Brick am 18.12.2002

Wir, mein um eine Viertelstunde älterer Zwillingsbruder und ich, wurden am Donnerstag, den 2. Februar 1882 früh um 1 Uhr und 1 '/4 Uhr, hier in Nürnberg im elterlichen Haus, Karolinenstraße 7, geboren als neuntes und zehntes Kind des damaligen Bezirks- und städtischen Krankenhausarztes Dr. Gottlieb Merkel und seiner Frau Emma, geb. Schwarz. Drei Kinder (Christoph, Gottlieb und Wilhelm) waren schon vor unserer Geburt gestorben, so dass wir nun sieben Kinder waren. Die Mutter hat noch vor ihrem Tod sich darauf gefreut, die drei in der Ewigkeit wiederzusehen; so tief war ihr Schmerz über diese frühen Todesfälle gewesen. Bei meiner Geburt glaubte man es zuerst mit der Nachgeburt zu tun zu haben; ich musste dann auch erst tüchtig geschlagen werden, bis ich den ersten lebenswichtigen Schrei tat, und ich soll so klein gewesen sein, dass ich in einen Maßkrug ging. Am ersten März des gleichen Jahres wurden wir von Pfarrer Heller in Heilig-Geist getauft, der ältere auf den Namen Benedikt und ich auf die Namen Georg William. Die Paten meines Zwillingsbruders waren Onkel Benno Schwarz, dessen Frau Rosa - eine höchst originelle Frau - die Schwester von Onkel Wilhelm Merkel - dem Frauenarzt hier - und Base von unserem Vater war, und dann der Bezirksarzt Dr Karl Dörfler in Weißenburg, ein sehr naher Freund unseres Vaters. Meine Paten waren der reformierte Pfarrer Georg Bossert von St. Martha und unser Vetter mütterlicherseits Willy Gibsone, damals Student der Theologie, dessen Eltern - die Mutter war die älteste Schwester unserer Mutter - hier am Hübnersplatz wohnten. Schon von wegen der Paten erschien mir später mein Zwillingsbruder bevorzugt. Onkel Schwarz war Fabrik- und Specksteingrubenbesitzer und sehr vermögend. Seine Patengeschenke waren für unsere Begriffe fürstlich, zum Beispiel eine richtige Dampfmaschine und Dampflokomotive aus reinem Messing, die man mit einer Spiritusflasche in Gang bringen konnte. Benno ließ mich auch damit spielen. Ich beneidete ihn deshalb, war jedoch keineswegs neidisch auf ihn, was mir überhaupt nicht lag. Zur Konfirmation bekam Benno von ihm eine goldene Uhr. Meine Paten dagegen waren finanziell bescheiden dran, was man natürlich auch an den Geschenken bemerkte. Ich erhielt zur Konfirmation eine ganz einfache silberne Uhr, schon zu Weihnachten vorher, damit ich nicht an der Konfirmation zu sehr abgezogen würde und unser Vetter Willy schenkte mir dazu einen Ring mit unserem Familienwappen, den ich später meinem Paten und Neffen Georg Merkel, Arzt in Altenbruch bei Cuxhaven, schenkte. Dass mein Bruder eigentlich Benedikt hieß und getauft wurde, erfuhr ich erst viel später, denn wir nannten ihn alle von Anfang an Benno. Zu meinen Paten kamen die Eltern dadurch, dass Pfarrer Bossert ein Studien- und späterer Reisefreund unseres Vaters war, da ihn in den ersten Jahren natürlich weder die Mutter noch wir Kinder auf seinen Urlaubsreisen begleiten konnten. Pfarrer Bossert war Pfälzer und zeigte in Gesellschaft einen höchst schlagfertigen Humor. Die Mutter und er verstanden sich besonders gut. Mir gegenüber war er nur ernster und strenger Pädagoge. Er sah wohl frühzeitig mein zerfahrenes und verträumtes Wesen. In der damaligen Zeit war er unter den Nürnberger Pfarrern ohne Zweifel der einzige wirkliche und beste Theologe, stark beeinflusst durch den bedeutenden reformierten Theologen Menken. Pfarrer Bossert legte sehr viel Gewicht auf das Alte Testament und die Kenntnis der hebräischen Sprache, was mir, namentlich im zweiten theologischen Examen, insofern sehr von Nutzen war, als ich da ausgerechnet über den 137. Psalm, den mich mein Pate hatte auswendig lernen lassen, von Dekan Summa, der wenig vom Hebräischen verstand, examiniert wurde. Pfarrer Bossert hatte eine Zeit lang auch die Leitung der höheren Töchterschule, bis er in den neunziger Jahren beim Erwachen des konfessionellen Bewusstseins durch Pfarrer Heinlein von St. Egidien ersetzt wurde. Unsere Mutter ging sehr gern in Bosserts Predigten in die Marthakirche, die immer sehr voll war. Diese hatten auch ohne Zweifel einen klassisch strengen Stil. Uns Kindern lagen sie weniger. Es fehlte darin für uns der freudige, jugendliche Ton. Den brachte in unsere Kinderschar mein Pate Willy Gibsone, ein von uns allen besonders geliebter Vetter, den ich innigst ins Herz geschlossen hatte und zu dem ich - er war etwa einen Meter neunzig groß, sehr schlank und trug einen feinen Schnurbart - höchst beglückt emporsah.

Doch zurück zu unserer ersten Kindheit. Wir waren als Zwillinge natürlich etwas besonderes. Die Mutter dachte manchmal, wie sie später erzählte: ,Wie kann man sich über e i n Kind so freuen! So Zwillinge im Wagen oder an den Händen sind doch erst das Allerschönste!" Auch der Vater war mit uns damals ganz Kind und ließ sich gern von uns in den Bart kraulen. Benno war freilich zurückhaltender als ich, der ich von Anfang an viel weicher and liebesbedürftiger war. Er war überhaupt aus härterem Holz geschnitzt und nickt so stark vom Gefühl bestimmt wie ich. Körperlich waren wir beide in den ersten Kinderjahren etwas schwächlich. Deshalb schickte uns der Vater mit der Mutter einmal nach Bad Schwäbisch Hall and dann nach Traunstein, wo wir uns beide durch Solebader stärken sollten. In Traunstein wohnten wir bei dem mit unserem Vater bekannten Bezirksarzt Dr. Leonbacher, dessen einer Sohn katholischer Geistlicher war. Dort in Traunstein lernten wir auch endlich schwimmen, was wir dann häufig in Nürnberg in der Pegnitz oder im Wildbad von Bromig auf der Hinteren Insel Schütt taten. Besonders letzteres war mir ziemlich unheimlich wegen der Düsterkeit des Bades and des dumpfen Wellenschlages bzw. des dunklen Wassers. In den großen Ferien nahm uns die Mutter irgendwohin aufs Land mit. Besonders erinnere ich mich an einen Aufenthalt bei Rückersdorf auf der Ludwigshöhe, wo mit uns das sehr nette Mädchen Helene Hartel war. Sie war etwa 15 oder 16 Jahre alt, die Tochter eines Nürnberger Oberlandesgerichtsrates, and spielte reizend mit uns im Wald. Sie baute da entzückende kleine Mooshütten and gab sich viel mit uns ab. Es war das erste fremde Mädchen, das mich besonders anzog. Erst viele Jahre später verlor ich die Verbindung mit ihr. Noch heut denke ich gern und dankbar an sie. Ein anderes Mal waren wir in Muggendorf in der Fränkischen Schweiz. Als wir das in der dritten Klasse der städtischen Handelsschule unserem Lehrer Wetschureck erzählten, frug er uns , ob wir da viele ,Mucken" gefangen hätten, was wir amüsiert verneinten. Die städtische Handelsschule am Lorenzer Platz war die Vorschule, in die wir 1888 geschickt worden waren. Meines Erachtens waren wir noch zu unreif dafür. Wir gingen ungern in die Schule und taten uns schwer in ihr, auch wenn die drei Lehrer dort meiner Erinnerung nach gar nicht schlecht waren. Aber wohl unserer Schwächlichkeit wegen blieben wir immer unter den letzten Schülern. So blieb Benno zweimal später in der zweiten and dritten Lateinklasse und ich in der sechsten Gymnasialklasse einmal sitzen. Ich half mir, um fortzukommen und bestehen zu können, viel mit Spickzetteln and Abschreiben oder durch Unterstützung freundlicher, besserer Mitschüler. Auch die Nachhilfestunden, die uns der Vater bei anderen Lehrern geben ließ, halfen nicht viel. Ich selbst war wohl sehr verträumt und zerfahren and nahm es mitunter mit der Wahrheit nicht ganz genau. Dabei las ich immer gern und viel andere Sachen, die mich mehr interessierten, so z.B. Alfons Daudet, Gustav Freytag und Felix Dahn oder Indianergeschichten wie den Lederstrumpf and Onkel Toms Hütte. Besonders machten wir uns über die Karl May Geschichten im ,Guten Kameraden". Benno war, namentlich später, konzentrierter and reifer. Ich erinnere mich noch, wie er mich an unserem Konfirmationstag im April 1896 zurechtwies, als ich da Indianergeschichten, die mir ein Schulfreund geschenkt hatte, las. So hat er mich manchmal auf manches Ungehörige, das ich tat oder tun wollte, als unschicklich hingewiesen. Er hatte von Anfang an ein besseres Gefühl für das, was recht and korrekt war. Ihm war etwas Vornehmes zu eigen, weshalb man ihn später gern den „Baron" nannte. Freilich hatte er dabei weniger Verständnis und Gefühl für andersgeartete, namentlich niedrige, kleine und schwächliche Menschen. Unsere kleinen Nichten und Neffen trätzte er gern and viel, während ich eigentlich stolz war auf die Würde als, Onkele", wie sie uns nannten.

Ganz eigen waren unsere Beziehungen zu unseren größeren Geschwistern. Mit Heiner, der nur viereinviertel Jahre älter als wir war, waren wir mehr zusammen. Er war ein schwieriger Bub. Der Vater hat ihn einmal vor unseren Augen entsetzlich verhaut, was mir einen sehr bedrückenden Eindruck machte und das Bild des Vaters mir stark beeinträchtigte. Wir haben oft miteinander gestritten, wodurch dann bisweilen die „Gas-Strümpfe" und die Lüster kaputtgingen, was dann gewöhnlich einen Mordsspektakel gab. Natürlich kehrte er uns Jüngsten gegenüber den Älteren heraus, was wir uns nicht recht gefallen lassen wollten, besonders weil er als „Schwarzes Schaf' in der Familie galt. Mit den vier älteren Geschwistern hatten wir keine rechten inneren Beziehungen außer denen, dass sie glaubten uns erziehen zu müssen. Das hat namentlich Benno sehr geärgert. Hier tat sich besonders Johannes hervor, Benno konnte es ihm später nie vergessen, dass er gegen sein Verhältnis zu Pauline die Partei seiner Schwiegermutter ergriff, die absolut wünschte, dass Pauline einen Geschäftsmann heiraten sollte, der dann das große Volleth'sche Geschäft hätte übernehmen können. Ich habe unter diesen pädagogischen Versuchen der älteren Geschwister nie so gelitten und erkannte gern ihre Überlegenheit an. In Emilie, dem besonderen Liebling des Vaters, sah ich das Ideal eines Mädchens und einer jungen Frau und Mutter. Sie war von vielen umworben, litt aber an einem richtigen Vaterkomplex, der sie alle abweisen ließ, bis unser Schwager Karl Panizza kam, der ihr in seiner schmucken Chevauleger-Offiziersuniform, seiner hohen Intelligenz und seinem Alter - er war siebzehn oder achtzehn Jahre älter als sie - so imponierte, dass sie sich auf einem Ball des Herrn von Puscher im Jahre 1895 sofort in ihn verliebte. Obwohl er damals erst Gerichtsreferendar war, - er war vorher Kaufmann und studierte erst später - entschloss sich der Vater schweren Herzens die Einwilligung zur Heirat zu geben, da er in guten, geordneten finanziellen Verhältnissen lebte. Sein verstorbener Vater hinterließ seiner Witwe den „Russischen Hof' in Bad Kissingen, damals dem vornehmsten Hotel. Die Mutter Panizza war eine hochintelligente, ihrer selbst sehr bewusste, eigenwillige Persönlichkeit, die uns alle dadurch auffiel, dass sie, obwohl sie damals schon hoch in den Siebzigern stand, bei der Hochzeit am 15. September in einem vornehmen, weißseidenen Kleid erschien. Später wird von dieser Hochzeit und dem, was darauf folgte, noch weiter zu berichten sein. Vorerst möchte ich noch auf eine mir immer wieder merkwürdig erscheinende Verschiedenheit in unserm großen Geschwisterkreis hinweisen. Die größeren Geschwister waren mit der Mutter sehr begeistert für alles Nationale und Militärische und für das äußere Ansehen und die äußere Macht des Reiches. Wir drei Jüngsten (Heiner, Benno und ich) standen dem allen mehr kritisch gegenüber. Freilich wurde auch von uns Bismarck in seiner überlegenen Staatskunst und Leistung unbedingt anerkannt und hoch geschätzt. Aber der politisch in unseren bürgerlichen Kreisen gezeigten, restlosen Begeisterung für Kaiser und Reich standen wir mehr ablehnend und fremd gegenüber. Volk und Vaterland, das auch wir liebten und dessen wir uns erfreuten, waren uns mehr ein geistiger Begriff, etwa im Sinn unserer großen Klassiker. Das Getu um die äußere Größe und Macht von Kaiser und Reich erregte unseren Widerspruch. Nur mehr aus Neugierde sahen wir uns die äußeren Aufzüge an, auch wenn wir ganz gern den Aufmarsch zum 1. September beim Sedansfest ansahen, wo - den Veteranen voran - der hünenhaft große Geschäftsführer der Merk'schen Großhandlung, in deren Haus wir wohnten, mit seinem großen Vollbart die schwere Fahne trug und schwang. Besonders ist mir von jener Hochzeit Emiliens noch in Erinnerung, dass unsere originelle, gute Clär die Idee hatte, uns beide Zwillinge als Sebalder und Lorenzer Kirchturm auftreten zu lassen. Emilie war in Sebald getauft und wurde nun in Lorenz getraut und meines Wissens war sie dort auch 1884 konfirmiert worden. Bei der Silbernen Hochzeit der Eltern am 30. Mai 1890 dachte sich Clär eine pantomimische Darstellung des alten Bildes von der Familie Paul Wolfgangs aus, wo wir beide die kleinen, stehenden Kinder - unseren Großvater Johann und dessen Bruder Sigmund - zu markieren hatten. Ich sehe noch, wie damals die anwesenden Großonkel Karl und Gottlieb - 81 und 77 Jahre alt - zu Tränen gerührt wurden. Auch unsere anderen Geschwister taten damals mit. Wen sie damals darzustellen hatten, weiß ich nicht mehr. Besonders ist mir von dieser Silbernen Hochzeit noch in Erinnerung, wie stolz wir waren, dass wir zum ersten Mal mit den Großeltern aufbleiben und das Fest mit zu Ende feiern durften. Die vielen schönen Feste und Gastereien, die immer gern von den Eltern gegeben wurden, zeichneten sich besonders aus durch die Tischreden, die dabei der Vater hielt und in denen seine ganze Wärme und Feinsinnigkeit, wie seine Belesenheit und sein Humor hervortraten. Sonst kannten wir ihn in seiner unantastbaren Autorität, die uns Kinder schweigen ließ, als ernst und streng. Er redete bei Tisch gewöhnlich nicht viel und war wohl mit seinen vielen öffentlichen und sonstigen Verpflichtungen beschäftigt oder darin ermüdet. Auch setzten ihm oft Neuralgien und Nierenkoliken zu, sodass auch die Mutter mit Argusaugen darüber wachte, dass er nicht zu viel durch unser Kindergeschrei gestört wurde. Hinsichtlich Ordnung und Pünktlichkeit konnte er sehr pedantisch und streng sein. So mussten wir jeden Morgen um 7 Uhr beim Kaffeetisch sein, wo dann gewöhnlich der Vater die Morgenandacht hielt mit den Losungen und einem Gebet aus den „Samenkörnern" von Löhe und später aus dem „Pigerstab" von Spengler. Diese verstanden wir weniger als die Abendgebete der Mutter mit einem Gesangbuchlied. Am Sonntag verlas der Vater bei der Andacht das altkirchliche Evangelium samt der Epistel aus seiner alten Hochzeitsbibel. Auch wenn wir das alles nicht verstanden oder uns, namentlich bei Löhe, über die Gebete verwunderten, erhielt sich doch gewiss auch dadurch bei uns allen die feste religiöse Sitte und kirchliche Beziehung. Gerade diese Gewöhnung stieß keinen von uns ab und hat sich bis ins späte Alter bei uns allen lebendig erhalten und fortgesetzt. Er war ein rascher Arbeiter und sehr fleißig. Viel Geduld hatte er nicht. Bei dummen Reden oder Floskeln bekam man gleich eins hinter die Ohren. Meine zerfahrene, phantastisch-träumerische Weise machte ihm zu schaffen. Oft sagte er zu mir: „Du bist ein Wolkenschieber." und wenn ich sagte: „Geld ist Dreck.", so erwiderte er nur lakonisch: „Aber Dreck ist kein Geld.". Er meinte es wohl gut in seiner Strenge und sagte zu mir einmal: „Du musst wissen, dass dein Vater dein bester Freund ist." Aber ich sah es nicht recht ein und wehrte mich im Stillen gegen seinen Druck. Als ich einmal mit vierzehn Jahren im dunklen Gang auf seinen Bauch stieß und zurückprallte, hat das mir schwer zugesetzt, weil ich dummer Bub glaubte, schon erwachsen und groß und ihm gewachsen zu sein. Natürlich hat mir das eine ordentliche Watsche und den Ruf des Vaters eingebracht: „Dummer Bu', siehst du nicht, dass ich daherkomme! Mach doch deine Augen auf!" Aber es war wirklich so dunkel, dass man nichts sehen konnte. Ich glaube nicht, dass Benno ähnliche Erfahrungen mit Vater gehabt hat. Er war innerlicher robuster und einsichtiger. Aber gerade darum erscheint mir in der Erinnerung immer als ein besonderes Erlebnis unser Abendmahlsgang. Dass da mit uns Kindern der Vater in der Beichte in gleicher Weise angesprochen wurde und dann mit uns am Altar niederkniete, das beeindruckt mich noch heute, wie ebenso, dass wir alle zuvor zuhause mit einem Kuss uns gegenseitig Verzeihung versicherten. Er, der Vater, die unerschütterliche Autorität, und wir Kinder.

Doch ich will nun wieder auf unsere beiderseitigen Zwillingsverhältnisse zu sprechen kommen. An einen besonderen Streit zwischen uns erinnere ich mich nicht. Dass wir gern am Abend vor dem Schlafen in den Betten uns mit den Kissen bewarfen, ist ein Jux, den wohl alle Kinder kennen. Einmal, als die Eltern zu einer Einladung fort waren, ist es fast gefährlich gewesen: im Schlafzimmer der Eltern zündelten wir herum, dass die Kissen anbrannten. Wie die gute Clär, das vertuscht hat, weiß ich nicht mehr. Aber die Eltern haben, soviel ich weiß, nie etwas davon erfahren. Besonderes Interesse erregte bei uns natürlich, als wir etwa 1891 das erste Telefon bekamen. Da erinnere ich mich an eine gelungene Geschichte. Unser Vater war in Bad Reichenhall; Tante Laura Gibsone, die älteste Schwester der Mutter, kam wegen irgendeiner Erkrankung in ihrem Hause aufgeregt zu uns, um sich vom Vater Rat zu erholen. Die Mutter telefonierte nach Reichenhall und ließ den Vater ans Telefon rufen. Dann rief sie die Tante und gab ihr den Hörer. Als sie des Vaters Stimme hörte, war sie so perplex, dass sie den Hörer vor Schreck fallen ließ, und das Gespräch brach ab. - Wir benutzten das Telefon natürlich nicht, weil keiner der Bekannten eines hatte. Es war uns auch jede Berührung streng verboten. Wir staunten aber das Ding doch mächtig an und wagten uns diesem Zauberwerk kaum zu nähern.

Wir wurden von den Eltern sehr sparsam und knapp gehalten. Zuerst bekamen wir nur drei Pfennige pro Tag für eine Salzstange in der Pause. Manchmal schielten wir dabei die süßen Backwaren, die von dem Bäcker noch angeboten wurden, verlangend an. Später erhielten wir eine Mark Taschengeld für den Monat. Über dessen Ausgaben mussten wir genau buchführen und wurden vom Vater regelmäßig kontrolliert. So machte es der Vater auch mit dem Haushaltsbuch der Mutter. Da gab es manche Tränen, obwohl die Mutter in jedes Haushaltsbuch am Anfang die Worte „Mit Gott" hineinsetzte. Hinsichtlich alles dessen sagte der Vater oft: „Beim Geld hört jede Gemütlichkeit auf." Als Kaufmannssohn war er in allen diesen Dingen peinlich genau, zumal er 1874 den Zusammenbruch des väterlichen Kolonial- und Bankgeschäftes unter dem Verlust alles Ersparten miterlebt hatte. Die Geschwister des Vaters waren mit allen Ersparungen eingesprungen, um die kleineren Gläubiger verlustlos zu entschädigen. Das gelang denn auch auf diese Weise, kostete ihnen aber ihr Vermögen. Die beiden ledigen Schwestern des Vaters, Tante Luise und Margarete, die in Nürnberg am Kirchenweg wohnten, brachten sich dann mit der Vertretung von Bielefelder Leinen und Pfefferminzplätzchen durch. Die Tante Malch, wie Margarete gewöhnlich genannt wurde, konnte das nie der Familie Ludwig Merkel, des älteren Bruders vom Vater, nach dessen Tod der Zusammenbruch des Geschäftes geschah, vergessen. Das Großkolonial- und Bankgeschäft Lödel/Merkel, wie es hieß, war eben hauptsächlich nach dem Osten orientiert und litt dann schwer unter dem Ende des sechsundsechziger Krieges. Auch auf der Universität wurden wir ziemlich knapp gehalten: 100,-- Mark Wechsel in Erlangen und in Berlin 120,-- M; damit mussten alle Ausgaben bestritten werden. Als ich von Erlangen nach Berlin ging, hat der Vater mich nach meinen Schulden gefragt. Ich vergaß dabei - ob absichtlich oder unabsichtlich, weiß ich nicht mehr - , die 24,-- M Schulden für Schnäpse bei Scholl, unserem Bubenreutherhaus gegenüber. Als der Vater später durch eine Einforderung, die in seine Hände kam, davon erfuhr, gab's natürlich einen großen Stunk. Er sah in mir den verlorenen Sohn. Nach vielen Jahren aber sagte er mir: „Du warst für mich von Deinen Brüdern der Billigste im Studium." Wie beneidete ich in Berlin meinen Conleib Glarus, weil er von dem dortigen Konto seines Vaters einfach abheben konnte, was er wollte und brauchte. Er hat das übrigens nie missbraucht und war unter anderem Pate des damaligen Reichsfinanzministers von Miquel und verkehrte dort wohl wie das Kind im Haus.

Nach der dritten Lateinklasse kam Benno ins hiesige Realgymnasium. Aber unsere Freunde in der jeweiligen Schule und später auf den verschiedenen Universitäten blieben auch die Freunde des anderen. Ich erinnere mich namentlich an Hermann Voit, den späteren Arzt, oder Fritz Leuchs, Bennos späteren Kollegen in Elberfeld, der dann dort in Bennos Haus unsere Nichte Martha Hennighaußen kennenlernte und heiratete. Es war bis zu seinem Tod eine sehr glückliche und harmonische Ehe. Fritz Leuchs war - wie auch später Erich Merkel - durch Bennos Vermittlung in die I.G.-Farben gekommen. Bezeichnend für die beiderseitige Verschiedenheit von uns Zwillingsbrüdern war, wie Benno zeitlebens sich daran stieß, dass Leuchs etwas wenig auf das Äußere gab, während mich das nicht genierte und ich mich nur an dessen nüchtern klarem, freundlichem und wissensreichem Wesen erfreute. Von Bennos Studium in München möchte ich noch erwähnen, wie er verschiedene Male und gern als Statist im Hoftheater mit anderen Studenten sich heranziehen ließ. Dadurch wurde er auch einmal mit der damals berühmten Barfußtänzerin Isadora Duncan bekannt und entflammte sich so für sie, dass er sich von ihr ein Bild mit eigener Unterschrift erbat. Ich habe diese entzückende Tänzerin, die wenige Jahre danach durch einen Unfall ums Leben kam, auch auf Bennos Veranlassung hin in Berlin ein paar Mal in ihren Aufführungen gesehen. Es war ein künstlerisch bedeutsames Erlebnis; aber zu einer persönlichen Berührung zwischen ihr und mir kam es nicht. Dazu war ich zu scheu und zu schüchtern. Doch ging ich in Berlin auch viel ins Theater und sah so manche hervorragende Aufführung, etwa von Gerhart Hauptmann, Maxim Gorki, Shakespeare und Richard Wagner. In besonderer Erinnerung ist mir der damals berühmte Adalbert Matkowski und Tilla Durieux, der man damals eine Poussage mit dem Kronprinz Wilhelm nachsagte.

Ein sehr erfreulicher Gewinn für uns beide wurde uns geschenkt durch die Heirat unserer ältesten Schwester Grete mit dem Kaufmann Franz Hennighaußen. In ihm und seinem Vater traten uns, ich möchte fast sagen das erste Mal, Menschen entgegen, die uns junge Leute nicht als unreife und erst noch zu erziehende Kinder ansahen, sondern mit uns wie gleich zu gleich verkehrten und uns in unserem jugendlichen Drang ganz ernst nahmen. Dabei war Schwager Franz doch 22 Jahre älter als wir und sein Vater noch 5 Jahre älter als der unsrige. Sie nahmen uns viel auf Spaziergänge mit und öffneten uns die Augen für die Schönheit der Natur. Auch für die Musik weckte die musikalische Familie uns Herzen und Sinne. Unsre in diesen Jahren besonders empfängliche Natur verdankt ihnen viele neuen Eindrücke, die wir von zu Hause her wenig kannten. Denn Spazierengegangen wurde bei uns nicht viel. Der Vater hatte keine Zeit dafür und die Mutter war auch zuhause samt unserer Clär zuviel beschäftigt. Auch zu religiösen Gesprächen kam es mit dem alten Herrn, der wie sein Sohn, unser Schwager Franz, Presbyter in der reformierten Gemeinde war. Ich lernte da zum erstenmal erkennen, wie schwer es für einen im tätigen Geschäftsleben stehenden Menschen war, das eigentliche Wesen des Christentums und der Kirche zu erfassen und ihre komplizierten Lehrmeinungen zu verstehen und anzunehmen. Auch unser Vater rätselte manchmal in seinen kranken Tagen mit mir daran herum, aber es war selten. Über Sitte und Gewöhnung und über einen allgemeinen Vorsehungsglauben sind sie alle nicht viel hinausgekommen. Wie sollte es auch anders sein bei einer Generation, die im allgemeinen nur das Physisch-Psychische kannte und der alles „Metaphysische" ganz fernlag. Nur das Sittliche und Historische wurde bei ihnen grossgeschrieben. Aber darin zeigten sie sich auch wirklich groß! Ist das nichts? So wurde ich von Anfang an duldsam und weit- und warmherzig. So hat z.B. unser Vater nie geduldet, dass wir gegenüber niedriger Stehenden oder unserem Schuhputzer oder Auslaufer oder dem Personal der Angestellten gegenüber unseren Stand herauskehrten. Ich weiß noch, wie Benno einmal wegen seines hochfahrenden Benehmens gegen den Auslaufer Wild vom Vater eine kräftige Ohrfeige erhielt. Kleinigkeiten, wird man sagen! Und doch, ist das nichts? Oder wenn der Vater uns sehr scharf zurechtwies, wenn wir den alten Juden Meinzer uns gegenüber in der Brunnengasse bei seiner Zeitungslektüre mit einem Spiegel blendeten und uns dabei frech gaudierten. Kleine alltägliche Dinge erziehen oft mehr als große pädagogische Künste und moralische Standpauken.

Noch muss ich nachholen, dass wir beide fast jedes Jahr zwischen 1896 und 1906 bei dem Studienfreund unseres Vaters, Dekan Burger, in Markt Erlbach zu längerem Besuch waren, wie früher auch unsere großen Brüder. Er hatte fünf Söhne in jungen Jahren verloren und nur drei größere Töchter im Alter unserer großen Geschwister. Auch da erhielten wir beide manchmal ordentliche Zurechtweisungen. Ich, weil ich im Schachspiel mit einer der Töchter unfair war; Benno, weil er die französische Erzieherin der Töchter beim Kroquetspiel von hinten anstieß, sodass der Ball woanders hinflog. Dekan Burger gab uns jedesmal eine ordentliche Ohrfeige. Aber abends ließ er uns dann das Abendlied zur Andacht lesen. Dagegen hat mir eine andere Geschichte von Benno starken Eindruck gemacht. Am Mittwoch Nachmittag war gewöhnlich auf der Eichenmühle bei Markt Erlbach Kegeln. Eines Tages stieß sich Benno beim Kegeln einen langen Spieß unter den Nagel des rechten Fingers. Er erbleichte und war der Ohnmacht nahe, aber er stieß weder einen Schrei aus, noch weinte er darüber. Ich bewunderte ihn nicht wenig deshalb, denn ich hätte mich mordsmäßig dabei aufgeführt. Man kann sich ja denken, wie weh das tut! Aber Benno war eben nicht so wehleidig wie ich.

Einige Ferienfahrten, die wir beide miteinander machten, möchte ich doch noch erwähnen. 1898 machten wir allein eine herrliche Fußwanderung in den Bayrischen Wald, wobei wir den Rachel, den Lusen, den Arber, den Blökensteinsee, sowie den Schwarzen See und den Dreisessel besuchten. In der dortigen Hütte übernachteten wir. Unterwegs hatte sich ein katholischer Geistlicher angeschlossen. Im Gespräch wies er uns auch begeistert auf die Schriften von Adalbert Stifter hin. Als wir heimkamen, kaufte ich mir gleich zwei Stifter­Bände in der Reclam-Ausgabe. Noch heute freue ich mich dieser Begegnung und des Hinweises auf diesen klassischen Schriftsteller mit seinem edlen Stil und Gedankengehalt. 1899 durften wir Zwei allein Wittenberg, wo Tante Laura Gibsone mit ihrer Tochter Ellen wohnte, dann Berlin, wo Herrmann als Assistent an der Charité unter dem damals bedeutenden und mit dem Vater befreundeten Kliniker Professor Gerhard tätig war, und schließlich Zeuden in der Nähe von Brandenburg besuchen, wo mein Vetter und Pate Willy Gibsone mit seiner Familie als Pfarrer amtierte. In der Familie waren auch zwei Mädchen in unserem Alter als Pensionstöchter aufgenommen, eine nicht gerade anziehende von Dietenbrook-Grüder und ein sehr anziehendes, stattliche Mädchen namens Krüger, die namentlich Benno sehr umschwärmte, während ich mehr mit Cis, der jüngsten Gibsone­Tochter, und mit Tom und Alexander, den zwei Söhnen, spielte. Cis war ein wildes Mädchen, mit dem ich viel zwischen den Stangenbohnen herumtollte und die ich gern „Hexe" nannte. Durch mich kam vier Jahre später auch mein Conleib Glarus zu Gibsones. 1913 verheiratete er sich mit Cis, worüber sich besonders der Vater Willy freute, während die etwas kritisch, spitzig und scharf urteilende Mutter Bertha ihren bescheidenen und unpraktisch-idealistischen Schwiegersohn, übrigens einen charakterlich vortrefflichen und wissenschaftlich gut ausgebildeten Juristen, den wir beide, Benno und ich, sehr schätzten, nie recht für voll und ernst nahm. Auch Cis, ihrer Mutter sehr ähnlich, sah in ihm mehr seine negativen Eigenschaften, die doch nach einem französischen Wort nur „les defaux de bonne egalitées" waren. - Eine dritte gemeinsame Fahrt, diesmal zu Rad, machten wir durch Württemberg ins Elsass. Ich glaube es war 1902 nach Bennos Abitur. Als nach Stuttgart bei einer Abfahrt Bennos Radkette brach, stimmte ich Blödling das Lied an „Wir sind die letzten Goten". Das ärgerte Benno aber sehr, ihm war dieses Missgeschick nur peinlich. Wir besuchten im Elsass namentlich die Schlachtfelder aus dem 70er Krieg in Weissenburg und Wöhrd. In Strassburg wohnten wir im Hotel „Schmutz", das aber, wie die ganze Stadt, sehr sauber war. Auch in Colmar waren wir, doch hatte damals noch niemand recht Sinn für den berühmten Isenheimer Altar von Grünewald. Ich lernte ihn erst genau 50 Jahre später dort kennen und bestaunen. Alles in allem war es eine recht schöne gemeinsame Radtour, an die wir immer gern zurückdachten.

In lieber Erinnerung stehen mir auch die von den Eltern hergerichteten Weihnachts­feste. Als Kinder freuten wir uns in den Vorwochen über jeden silbernen Lamettastreifen am Boden als einen Gruss vom Haar des Christkinds. Noch steht mir vor Augen das heimliche Treiben um diese Zeit, wo wir unseren Brief an das Christkind mit unseren Wünschen vor das Fenster legten und dafür dort am nächsten Tag einen Lebkuchen für uns hingelegt fanden. Und dann überhaupt dieser herrlich süsse Duft von den zubereiteten Festbackereien. Wie gut schmeckte schon der unfertige Butter- oder Lebkuchenteig, von dem wir etwas heimlich stibitzten. Am Heiligabend warteten wir dann in der dunklen Vorstube, bis das Klingelzeichen der Mutter aus dem Nebenzimmer ertönte und wir als die Jüngsten voran unter dem Gesang des Liedes: „Ihr Kinderlein kommet" vor den strahlenden Christbaum mit seiner großen Krippe und dem Tisch, auf dem die Geschenke lagen, eintraten. Manchmal betrachteten wir nicht ohne geheimen Neid die Geschenke der anderen. Bennos Pate, Onkel Schwarz, war da sehr vornehm. Die Eltern aber zogen keinen von uns dabei vor. Da lag Spielzeug und irgendwelche besonderen Kleidungsstücke oder Mützen. Später, als wir älter waren, putzen wir immer mit Clär und Heiner den Baum und tranken dazu Punsch. Am zweiten Feiertag kamen dann die hier oder in Erlangen wohnenden, verheirateten Geschwister mit ihren Kindern und es wurde ihnen da beschert. Schön sind mir auch die Sylvesterabende in Erinnerung, wo der Vater gern eine kleine Ansprache hielt. An dem letzten Sylvesterabend, den wir mit ihm erlebten (1920), ist mir noch in Erinnerung, wie der Vater im Rückblick auf sein wahrhaftig nicht leichtes Leben die Verse aus Goethes Faust II zitierte: „Ihr glücklichen Augen, / was je ihr gesehen, / es sei, wie es wolle, / es war doch so schön!"

So verging unsere Jugendzeit, nicht ganz ungetrübt, aber im ganzen doch schön, im Schoß einer großen, durch den Vater immer mehr zu Ansehen und zu bescheidenem Wohlstand ansteigenden Familie. Wir wussten uns alle in gleicher Weise geborgen und behütet. Des Vaters Liebling wurde immer mehr unsere zweite Schwester Emilie, gewöhn­lich „Mix" genannt, während Johannes gewöhnlich „Atz" gerufen wurde. Wenn wir zusammen waren, gab es meist ein großes Geschrei und Durcheinanderreden. Freilich, bei Anwesenheit des Vaters unterblieb es. Denn da hatten wir vor den Erwachsenen zu schweigen.
Der erste und große, schwere Schlag traf die ganze Familie durch den frühen und überraschenden Tod unserer Schwester Emilie in Kiel. Sie war am 29. April 1903 an einer unheimlichen, rasch verlaufenden Leberzirrhose mit 33 1/2 Jahren gestorben und hinterließ neben ihrem Mann vier kleine Töchter zwischen sechs und einem halben Jahr. Wir alle, besonders die Eltern und voran der Vater, waren dadurch ganz verstört. Für den Vater war es darum auch ein besonders schwerer Schlag, weil er der Mix versprochen hatte, bei einer schweren Erkrankung sofort zu ihr zu kommen. Aber er brach sich gerade damals kurz zuvor den Arm und lag zu Bett. So konnten nur die beiden ältesten Brüder Hermann und Johannes an ihr Sterbelager kommen und Emilie äußerte sich noch bitter enttäuscht, dass es nicht der Vater war. Die Beerdigung hielt damals in Kiel der von meinem Schwager sehr geschätzte Generalsuperintendent Wallrot. Ich studierte damals noch in Erlangen, Benno in München. Ich rannte , zutiefst erschüttert , im Zimmer umher, bis ich schließlich zu meinem Neuen Testament griff und dort die Worte Jesu, Johannes 16,33, las: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.". Da überkam mich eine merkwürdige, geheimnisvolle Beruhigung. Es war mein erstes, großes Erlebnis mit der Heiligen Schrift. Die Ehe der Mix mit ihrem eigenwilligen, eifersüchtigen Mann war für sie und für unsere ganze Familie eine schwere Belastung. Es kam bei seiner Eifersucht so weit, dass er der Mutter und Clär das Betreten des Hauses zum größten Schmerz von Mix verbot. Beim Vater traute er sich das natürlich nicht. Doch war Emilie noch zweimal mit ihren Kindern nach Nürnberg gekommen.

Das zweite Mal, dass der Tod in unseren Geschwisterkreis eingriff, war, als unser Bruder Heinrich, ein sehr geachteter Chemiker in der Agfa in Wulfen-Greppin im November 1916, 39 Jahre alt, starb. Er war wohl ein Opfer seiner Arbeit in der Herstellung des Giftgases Gelbkreuz geworden. Er hinterließ die junge Witwe mit drei kleinen Kindern von acht bis einem Jahr. Das traf den Vater auch besonders schwer, weil er sich in seinem Alter und bei der Entwicklung des Sohnes zu einem tüchtigen Chemiker und glücklichen Familienvater der übergroßen Strenge bewusst wurde, mit der er gerade diesem allerdings schwer erziehbaren und eigenwilligen Knaben gegenübergetreten war. Zu seiner Einäscherung, die in Leipzig stattfand, konnte er auch wegen seiner gefährdeten Gesundheit im Alter nicht kommen. Johannes und ich fuhren hin. Hermann stand im Feld als Armee-Pathologe und Benno lag schwer operiert in der hiesigen Methodisten-Klinik „Martha-Maria". Es war ihm kurz zuvor von dem bekannten Urologen und Chirurgen Dr. Ottmar Müller die linke Niere herausgenommen worden. Er hatte sich diese Tbc zugezogen, als er in Thorn beim Militär eingezogen war. Dr. Müller sagte damals zu meinem Vater: „Für fünf Jahre konnten wir jetzt voraussichtlich das Leben ihres Sohnes retten." Aus den fünf Jahren wurden dann dreizehn, allerdings gesundheitlich schwer gestörte Jahre von Mann und Frau. Letztere beide wurden erstmalig näher zusammengeführt bei der Hochzeit von Johannes mit Marie Volleth am 14. Mai 1904. Sie war, Pauline mit Rufnamen, die nächste Schwester von Marie, achtzehn Jahre alt, mit schönen großen Augen, von stattlicher Gestalt und lebhaften Geistes, ein ohne Zweifel sehr anziehendes Mädchen. Ich glaube, schon damals fing Benno Feuer. Beide ließen, trotz Widerstandes der Mutter Volleth, wie ich schon oben schrieb, nicht voneinander und heirateten am 14. April 1909. Sie wurden in der Lorenzkirche von Pfarrer Sucro getraut. Die Rede war etwas blumig, mit vielen Versen geschmückt. Seine Tischrede begann er damit, dass er nun bereits seinen „30jährigen Krieg" hinter sich habe, aber er könne aus dieser Erfahrung sagen, dass es um die Ehe ein gutes Ding sei. Ich habe damals mit Hermann Voit zusammen einen poetischen Dialog aufgeführt, bei dem wir den „Baron" (Benno) tüchtig aufs Korn nahmen. Dann zog das Paar nach der obligaten Hochzeitsreise in die neue Wohnung nach Elberfeld. Mit der Heirat Bennos trennten sich unsere Zwillingswege noch weiter. Er besuchte uns mit seiner Familie zweimal in Filke, einmal 1912 und dann 1914. Von seinem Ältesten, Hansl genannt, sagte er damals: „Er ist dumm, aber gut." Vor unserer kleinen Kirche flößte Benno dem Kind den größten Respekt ein, sodass der Bub, wenn er an der Kirche vorüberging, sich tief verneigte und die Mütze abnahm. Mich frug der Junge einmal, als er mich die Pfeife rauchen sah: „Onkel, was tust du denn da mit dieser Flöte?" Als wir beide, Benno und ich, am 29. August 1914 in Fladungen von der Ermordung des Österreichischen Erzherzogs in Sarajewo erfuhren, sagten wir beide wie aus einem Munde: „Das bedeutet den Krieg." Wir waren damals zu zweit auf einer Fußwanderung zur Wasserkuppe und Milseburg in der Rhön. Benno schenkte uns danach ein wunderschönes Meißener Kaffeeservice, das wir noch heute haben und das jedermanns Bewunderung erregt, wenn wir es einmal wieder benützen.

Ich bin verschiedentlich in Elberfeld bei Benno gewesen, namentlich zu den Taufen der drei Söhne (1910, 1912, 1914), die ich selbst vorgenommen hatte, aber auch in den zwanziger Jahren. Dabei habe ich immer beobachtet, wie sehr er bei Hoch und Niedrig gleichermaßen geschätzt und anerkannt wurde, so dass man ihm eine große Zukunft verheißen konnte. Er hatte damals auch das Adalin erfunden und dafür eine Tantieme von 15.000,-- Mark bekommen. Hätte er länger gelebt, so wäre er gewiss in eine leitende Stellung hineingekommen. Ich habe in seinem Hause manche vortreffliche, auch einfachere Menschen kennengelernt, die mir noch heute in lebendiger und bester Erinnerung stehen. Er war auch in einer Loge und hatte sich, da ihm der Wuppertaler Pietismus nicht zusagte, einer freien evangelischen Gemeinde angeschlossen. Diese wurde (auch gottesdienstlich) von dem liberalen Pfarrer Nack aus Köln bedient. Das war ein äußerst versierter und gewandter Redner. Er ließ mich aber kalt und ich fand keine nähere Beziehung zu ihm. Er gehörte nicht gerade zu den Freunden Jathos in Köln, trat aber für ihn ein. Seine ganze Richtung war mir zu intellektuell und zu säkularisiert. Aber Benno ließ alle seine drei Söhne von Nack, der auch öfters ins Haus kam, konfirmieren. Ihre Gottesdienste hielten sie vierzehntägig in einem Saal des Realgymnasiums. Es war alles Kultur-Protestantismus in reinster Form, erhielt aber doch so manche Naturwissenschaftler und sonstige Gebildete in Verbindung mit der Kirche. Auch das darf man nicht verachten, wie es die anderen Kirchgänger oder Gemeinschaftsleute gern taten. Nirgends gibt es mehr Pharisäer als in diesen Kreisen, so trefflich und fromm und kirchlich zuverlässig einzelne dabei sind. Von Geyer und Rittelmeyer her war ich ganz anderes gewöhnt als hier in Elberfeld. Diese waren weit und fromm zugleich und befriedigten Herz und Gemüt im Verein mit höchster geistiger Bildung viel mehr, als die nord- und mitteldeutschen, liberalen Amtsbrüder, bei denen im allgemeinen der Geist hypertrophiert und das Herz unterernährt blieb. Freilich lässt sich Kirche und Gemeinde ohne pietistische Kreise nicht bauen; aber zugleich bringt ihr Übergewicht und ihre Überbetonung die Kirche in die Gefahr der Weltfremdheit und des Ghettos, beziehungsweise der Engigkeit und Dumpfheit. Wie schön ist dagegen Geyers Ausspruch: „Die Blume der Religion gedeiht nur im Sonnenschein der Freiheit." Freilich steht die Freiheit immer in der Gefahr, ohne die Zucht der kirchlichen Lehre in Zügellosigkeit und innere Anarchie auszuarten. Paulus mahnt mit Recht wiederholt an die Verbundenheit von Liebe und Erkenntnis. Leider wird aber Kirchlichkeit und Christlichkeit im allgemeinen in und außerhalb der Kirche nach der Gemeinschaftsfrömmigkeit beurteilt und behandelt. Hier ist Geyers Vorbild und Wirken zukunftsweisend. Jetzt bemühen sich darum auch die theologischen Akademien und die Kirchentage, obwohl letztere zu viel nach Art der Massenmedien wirken.

Der Tod von Benno am 25. Oktober 1929 trennte mich für immer von meinem Zwillingsbruder und hat mich schwer erschüttert. Bei seiner Einäscherung in Hagen hielt ich ihm die Leichenrede. Etwa um 1933, nachdem alle drei Söhne die Schule absolviert hatten und zum Studium auswärts waren, zog meine Schwägerin Pauline wieder nach Nürnberg in die alte Heimatstadt. Sie wohnte zuerst in der Lutzstraße, dann in der Schlegelstraße , in der Nähe von Johannes in Erlenstegen. Wir kamen oft zusammen und sie hatte in ihrem für alle Gebiete des Lebens lebhaft interessierten Geist immer viele Fragen, die wir miteinander besprachen. Es war stets ein schönes und erquickliches Zusammensein. Erst ganz allmählich und langsam setzte gegen Ende der fünfziger Jahre (etwa 1957) ihr eine beginnende Gehirnsklerose mehr und mehr zu. Schon früher litt sie verschiedentlich an mehr oder minder schweren Depressionen, die ab und zu ihre Überführung in ein Sanatorium nötig machten. Aber es ging immer wieder vorüber und man merkte ihr im Zusammensein nichts an. Jetzt wurde es aber mit ihr immer schlechter. Nach einer vorübergehenden Verbringung ins hiesige Krankenhaus und einem einjährigen Aufenthalt in einer Heilanstalt in Göppingen in Württemberg wohnte sie zuerst bei ihrem ältesten Sohn in Darmstadt und zog dann dort in ein Altersheim der Inneren Mission, wo sie zuletzt im dortigen Pflegeheim sehr gut untergebracht und verpflegt worden war. Am 23. Juli 1966 ist sie dort überraschend gestorben. Vorher hatte sie noch einen Oberschenkelhalsbruch erlitten. Er war gut verheilt, aber ihr Lebenswille und ihre Teilnahme am Leben waren fast völlig erloschen. Ihre Urne haben wir neben der von Benno im elterlichen (früher Held'schen) Grab im Johannisfriedhof hier (Nr. I/21) am 15. August d.J. beigesetzt.

Ein großes Geschenk ist uns bis heute das gute, freundschaftliche Verhältnis zu ihren drei Söhnen und deren Familien, wie Benno und Pauline auch allezeit sehr herzlich mit meiner Frau verbunden waren. Ich erinnere nur dabei an die reizende Geschichte bei unserer Hochzeit am 25. September 1910, wo Benno als alter Nürnberger Bürger entzückende Verse vortrug. So war unser Leben zu zweit als Zwillinge in Haus und Familie ein schön gesegnetes, wofür wir Gott allezeit herzlich bankbar sein wollen, von keinem Neid und keiner Erbitterung je getrübt, in gegenseitiger Anerkennung und Liebe. „Kein Neid, kein Streit euch betrübe, Fried' und Liebe sollen schweben, Fried' und Freude wirst du geben."
Die Kinder und Enkel möchte ich für die Zukunft mit Goethes „Geistesgruß" grüßen:

Hoch auf dem Turme steht	Sieh, diese Sonne war so stark,
des Helden edler Geist	dies Herz so fest und wild,
der, wie das Schiff vorübergeht	die Knochen voll von Rittermark,
es wohl zu fahren heißt.	die Becher angefüllt.
Mein halbes Leben stürmt ich fort,
verdehnt' die Hälft' in Ruh,
und du, du Menschenschifflein dort
fahr' immer, immer zu!

Geschrieben im Oktober 1966
(In meinem 85. Lebensjahr)				Georg Merkel
Abgeschrieben, gelesen und korrigiert: 27.11.1995 gez. Fiedrich
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2 Lebensberichte: "Mein Theol. Werdegang" und "Wir Zwillinge"

Georg Merkel, geschrieben Nov.-Dez. 1966, Abschrift 5.6.1995 gez.Friedrich, eingescannt 15.3.2004 Eberhard Brick
Mein theologischer und kirchlicher -Werdegang und Weg
Den Theologen in meiner Familie gewidmet


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