Fehleintrag (Todestag 3.12.1976 Heidingsfeld) ? 6.1.2.2.2.2 schreibt Theaterstücke, z.B. in Weil a.Rhein aufgeführt; sowie Erinnerungen aus der Zeit 1928 (Vater in Brasilien) - 1945: "Damals, als wir jung waren,.. erzählt von Berta Winter, geb. Volkert" mit einigen Fotos. Auszug aus einem ihrer Bücher, Anhang S. 7 Mitte: Ahnen aus Würzburg nach Schweinfurt wegen Gegenreformation --- Vaters Karteikarte: Balthasar Rüffer, geb. 17.3.1534 in Fulda, gest. 16.5.1899 in Schweinfurt --- zitiert aus: Julius Echter von Mespelbrunn: "Aus dem Tagebuch des Malthasar Rüffer," Staastarchiv in Würzburg; bzw. "Rüffer-Akte in meinem Leitzordner mit Kupferstich" (Berta Winter). In memoriam Kirchenrat Gottlieb Volkert Teil II (Teil I s. Gottlieb Volkert) Erinnerung an mein Elternhaus Aufgezeichnet von Berta Winter, geb. Volkert St. Johannis Burgfarrnbach; Geschichte und Geschichten St. Johannis Burgfarrnbach 1280-1996; KIRCHENRÄTE IM KIRCHENKAMPF; Fürth, im Juni 2003; S. 59-97 Rothausen Im Schatten zweier Kriege haben meine Eltern ihr Leben geführt mit allen Sorgen, Unsicherheiten und Unbequemlichkeiten, die ein solches Kriegsgeschehen, eh und je, im Gefolge hat. Aber sie haben uns drei Kindern eine fröhliche unbeschwerte Kindheit ermöglicht. Mit großer Dankbarkeit will ich meine Rückschau beginnen. Am 5. 7.1919 schlossen meine Eltern in Hersbruck die Ehe. So brachte der Herr Pfarrer, der im 40. Lebensjahr stand, endlich eine junge Pfarrfrau nach Obersteinbach, einer Gemeinde, in die er schon seit 1912 eingesetzt worden war, die ihn aber immer wieder entbehren mußte, da er ja den ganzen Krieg als Feldgeistlicher an der Front stand. Obersteinbach war eine Patronatsstelle, ganz evangelisch, wie der adelige Patron, der vom Landeskirchenrat das Recht zugestanden bekommen hatte, sich seine Pfarrer selbst zu wählen. Eigentlich waren dessen Pflichten aber zahlreicher als seine Rechte. Er sorgte für die Instandsetzung des Pfarrhauses, die Renovierung der Kirche, die Ausgestaltung des Friedhofes. Diese oft sehr kostspieligen Vorkommnisse im Dorf konnten nur gut vonstatten ge­hen, wenn Patron und Pfarrer eines Sinnes waren und beide das Beste für das Dorf wollten, das ihnen in äußerlicher und innerlicher Weise anvertraut war. Seit 1912 war Vater dort schon Pfarrer und hat eine viel gerühmte Pfarrbeschreibung hinterlassen, wie mir ein Nachfolger dort, Jahre später, lobend erwähnte. Seine ältere Schwester Maria führte ihm das Haus und blieb auch den Krieg über allein im Pfarrhaus, als Vater 1914 gleich als Feldgeistlicher einberufen wurde. Sie mußte die Vertreter zum Gottesdienst oder für Amtshandlungen aus der Nachbarschaft im Pfarrhaus empfangen, „aufwärmen" oder sogar, während der Abwesenheit des Ortsgeistlichen, verköstigen. Dabei hielt sie auch immer guten Kontakt zu der adligen Familie. Jetzt aber konnte sie nach vollbrachter Leistung wieder zu ihren hochbetagten Eltern nach Nürnberg zurückkehren, bis sie dann nach dem frühzeitigen Tod ihrer Schwägerin, die mutterlosen Kinder ihres zweiten Bruders, Friedrich, in Buchenau betreuen mußte. Ihr Leben führte sie wirklich ganz selbstlos im Dienst für ihre Geschwister und starb mit 97 Jahren 1974 in Neuendettelsau. Nur ganz kurze Zeit konnte sich das Dorf ihrer jungen Pfarrfamilie freuen, denn schon 1920 folgte Vater einem Ruf des Landeskirchenrats auf das Dekanat Rothausen. Jedermann wird, von heutiger Sicht aus, sich verwundert fragen, weshalb solch ein kleines Dörflein der Sitz eines Dekanats war! Nie darf man die Gegenwartsverhältnisse auf die Vergangenheit beziehen oder sie mit vergangenen Zuständen vergleichen, denn in jeder Beziehung war das eine andere Zeit ! 1. Die Verkehrslage: Am äußersten Ende Unterfrankens gab es eine ganze Reihe kleiner Dörfer, alle evangelisch, die fast völlig abgeschnitten, ihr kärgliches Dasein fristeten: Rothausen/Gollmuthausen (Predigtstelle), Irmelshausen, Fladungen, Sondheim i. Grabfeld, Sulzdorf an der Lederhecke, Höchheim, Willmars, Filke, Oberwaldbehrungen und Urspringen... (Ich hoffe, daß ich alle erwähnt habe.) Rothausen lag offenbar für alle am günstigsten. Wie eine Hen­ne scharte es seine Küken, diese kleinen Pfarreien, um sich. Das Ganze bildete den sog. Grabfeldgau. Ein Kilome­ter weiter befand sich der Ort Mendhausen. Er lag schon in Thüringen. Die Bahnstation Mellrichstadt war etwa 11 km entfernt, d.h.. nur mit einer Kutsche zu erreichen. Autos gab es noch kaum, es konnten ja auch keine fahren, da alle Straßen nur schlecht befestigt waren, nirgends asphaltiert, höchstens mit Steinen ausgebesserte Wege, die bei gutem Wetter durchaus genügten, aber nach kurzem Regen sich in eine Schlammwüste verwandelten. Ich kann mich noch an eine Sensation erinnern als irgendein Anverwandter eines Bauern im Auto doch alle Unwegsamkeit überwunden hatte und aus Schweinfurt in Rothausen erschien! 2. Telephon gab es auch nicht. Dringende Mitteilungen wurden durch Telegramme über das Postamt Irmelshausen überbracht. 3. Das Dorf versorgte sich weitgehend selbst: Es gab keinen Bäcker, keinen Metzger. Ein kleines Gemischtwarengeschäft war wohl vorhanden, wo man neben anderen Kleinigkeiten die dringend benötigten Schnürsenkel für die Stiefel, die jeder tragen mußte, kaufen konnte. Mehl und Grieß kaufte man beim Müller, aber schon die Nudeln mußte man selber machen. Außerdem kamen häufig Hausierer, die Kämme oder Seife, Radiergummis und sonstige Kleinigkeiten ins Haus brachten. Neustadt an der Saale, wo jetzt der Sitz des Dekanats liegt, wäre für all diese Dörfer unerreichbar gewesen. So blieben diese kleinen Pfarrstellen eben unter sich, und der Dekan war mit allen Strapazen der „Erste unter Gleichen". In dieser Abgeschiedenheit erblickte ich und mein Bruder Friedrich das Licht der „Welt". Mit meiner Schwester zusammen, die schon in Obersteinbach geboren war, wuchsen wir dort auf, und diese kleine „Welt" wurde unser geistiger Erwachensraum. Natürlich habe ich noch viele Erinnerungen an meine frühe Kinderzeit in Rothausen. Ich ging zwar noch nicht in die Schule, war aber doch schon fünf Jahre alt, als unsere Familie wieder weiter zog. So gab es z.B.. um die Kirche herum viele Brennnesseln. Da mußte man vorsichtig sein beim Barfußlaufen. Oder: Eines Tages kam ich bis an die unterste Grenze unseres Gartens; dort floß ein Bächlein und da schwammen Enten. So weit durfte ich bisher noch nicht laufen . Das war mein ureigenstes Abenteuer, diese Entdeckung. Und die Pflaumen waren so süß, wie ich später im Leben keine mehr genossen habe! Kirschenernte auf der Dämmleinswiese und Kartoffelernte: Überall waren wir stolpernd und „helfend" dabei! Diese kleinen Erlebnisse mehren sich, wenn ich intensiv die Bilder aus der damaligen Zeit ansehe. Aber die großen Ereignisse für meinen Vater im Amt, in der Nachkriegszeit und in der Familie, die kenne ich nur durch Erzählungen und durch die vielen Briefe, die ohne Telefon die Verbindung unter den Geschwistern, väterlicher - und mütterlicherseits, aufrechterhielten. Immer wieder werde ich nun im Folgenden daraus zitieren. „Ein Band schlingt der Rundbrief wirklich um uns alle, über deren innere Verbundenheit Bertha (geb. Kirste, Schwä­gerin) so schöne Gedanken ausspricht. Wir wollen auch nichts zwischen uns dulden, was einer Verstimmung oder Entfremdung Vorschub leistet. Wir gehören zusammen und können ja doch nicht ohne die anderen sein... . „So schrieb Vater am 30. Sekt. 1921 an seine Geschwister und so können auch wir Nachkommen an allen Sorgen und Nöten der damaligen Zeit teilnehmen. Die autarke, genügsame Lebensweise, die die dörfliche Abgeschiedenheit mit sich brachte, stellte an die Hausfrau große Anforderungen". Da lese ich: „Wir haben jetzt ein Schwein, das so wie es geht und steht 300. - kostet, das bei den heutigen Preisen nicht zu teuer ist (8 - 9 Wochen alt; es muß also noch fett gefüttert werden". An das Schlachtfest kann ich mich auch noch erinnern, vor allem an das Kesselfleisch!) Dann: "Ich habe ein 14-jähriges Mädchen aus Mendhausen (gehört schon nach Meiningen), zur Hilfe, das ich anlernen muß. Es geht halt langsam. Vater macht sich ab und zu nützlich mit Holzhacken" .... Oder Vater: "Meine Frau kann heute nicht mehr schreiben. Sie ist schon um 1/2 9 Uhr ins Bett gegangen, weil sie schon um 1/2 4 Uhr aufstehen mußte um Schwarzbrot zu backen ,,..Ja der Backtag war ein großes Ereignis. Wir Dorfkinder saßen auf den Stufen des Schulhauses, und warteten, bis die großen runden Bleche, „Plotze" genannt, mit Streusel - oder Zwetschgen­kuchen im Dorfbackofen fertig gebacken waren. Dann bekam jedes einen großen Keil herausgeschnitten, noch heiß und so gut! Diese aber kamen erst ganz am Schluß in den gemeinsamen Backofen, nachdem das Brot aller schon draußen war. Freilich, die frischen „Knörzle" des Schwarzbrotes, das dann daheim angeschnitten wurde, waren die besten und es gab jedesmal einen kleinen Kampf darum. Die beginnende Geldentwertung wird genannt: "Für die Schnürsenkel, die ich heute kaufte, mußte ich das Doppelte bezahlen wie neulich. Schließlich kam die galoppierende Inflation, 1923. Man erzählte mir später, daß meine Patin Tante Marie Nicol mit ihrem Mann, Herrn Rektor Nicol von Rummelsberg, der mich taufte, mit ihrem Geld, das sie dabei hatten, nicht mehr heimkamen. Sie mußten schon in Neustadt a. d. Aisch(?) aussteigen und in Etappen mit Pferdefuhrwerken nach Rummelsberg gebracht werden.. Diese Inflationszeit bedeutete auch für den Dekan eine vermehrte Arbeitslast: Für die 10 oder 11 Pfarrer kam das Gehalt in großen Scheinen ins Dekanat. Es setzte sich für jede Pfarrei je nach Dienstjahren, Alter, Pfründe oder anderen Besoldungszuwendungen, die in Waren umgerech­net wurden, unterschiedlich zusammen. Die großen Scheine konnte man nirgends wechseln, vom alten Geld war nichts mehr vorhanden. Und schnell mußte den Pfarrleuten ihr Gehalt in die Hände gegeben werden, damit sie das Nötigste noch kaufen konnten, denn morgen war es schon viel weniger wert. Was blieb dem Dekan anderes übrig: Er mußte die Hilfe der Juden in Höchheim beanspruchen. Sie waren die Einzigen, die das Geld in die richtigen Proportionen wechseln konnten. Dann galt es, die einzelnen Dörfer mit dem Fahrrad möglichst bald zu erreichen; vielleicht auch im „Staffellauf" für die entfernteren Pfarreien, daß alle ihr Geld noch am selben Tag des Eintreffens bekamen. Schon an dieser Stelle ist zu berichten, daß Vater ein ganz unbefangenes Verhältnis zu den Juden hatte. Er wuchs ja in Fürth auf und war in der Volksschule und später im Gymnasium immer mit Juden zusammen gewesen, hat Hebräisch bei einet Rabbiner gelernt und auch im Feld gab es jüdische Kameraden, die ebenso ihr Leben für ihr deutsches Vaterland einsetzten wie alle anderen. Pfarramtliche Tätigkeit war leicht zu bewältigen. Taufen und Trauungen gab es schön verteilt übers Jahr, die Konfirmandenschar war auch überblickbar und beim Religionsunterricht half in der Grundschule der Lehrer mit. Beerdigungen gab es vielleicht zwei oder drei im Jahr. Der Bürokrat satt der Friedhofverwaltung benötigte keine weitere Kraft. So konnte Vater in Ruhe seine Pfarrbeschreibung abfassen, nachdem im Jahr 1924 die Reichsmark dem Inflationsgespenst den Garaus machte. Die Pfarrer trafen sich monatlich in Mellrichstadt zu den Pfarrkonferenzen. (Siehe Brief von Pfarrer Curt Schadewitz, damals in Filke, bei dem Kapitel: „ Im Urteil anderer.) So kam das Jahr 1928 heran, in dem ein unerwartetes Ansinnen an den Dekan in Rothausen herangetragen wurde: Eine Visitationsreise durch die deutschen Orte der Auswanderer in Brasilien zu unternehmen, die unter schwierigsten Verhältnissen, ihren Glauben und ihr Deutschtum, aufrechterhalten mußten. So einen Auftrag konnte Vater nie ablehnen. Er hätte keine Ausrede gefunden, weder wegen Krankheit oder Arbeitsüberlastung. Nein, ein solches Ansinnen empfanden wir alle immer als einen Ruf Gottes, dem man sich nicht entziehen kann! Drum ist er auch getrost und freudig nach Hamburg abgefahren, nachdem er den großen Schiffskoffer, der mit Holzbändern und drei Schlössern gesichert war, als Passagiergut aufgegeben hatte. Abreisebahnhof war Mellrichstadt (11 km). Brasilien Ein glückliches Geschick war es, als ich vor Jahren Herrn Pfarrer Wilhelm Brick kennenlernte. Durch Zufall kamen wir auf die Brasilienreise meines Vaters zu sprechen und da stellte sich heraus, daß er selbst von 1925 bis 1935, von Bielefeld abgeordnet, in Brasilien war und alle die Orte, ja auch die Menschen kannte, zu denen mein Vater 1928 kam. Ich gab Herrn Pf.. Brick das Reisetagebuch meines Vaters und er hat ausführlich viele Seiten kommentiert. Deshalb will ich nun zuerst mit einer Vorbemerkung aus seiner Feder beginnen; „Das Brasilientagebuch von Herrn Dekan Gottlieb Volkert 1928 ist mehr als ein Reisetagebuch. Es kann als ein Beitrag zur Kirchengeschichte der ECLB (= Evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses) bezeichnet werden. Darin wird das Werden einer Kirche berichtet. Sie ist aus dem Zusammenwachsen mehrerer Wurzeln entstanden. Diese sind Gemeindeverbände, Synoden und Kirchenbünde. Er entsprach einer Bitte des „Gotteskastens" vom 17. - 21. Aug. 1927 in Ponta Grossa (Paraná) um Anschluß an den Bayer. Gotteskasten (1) .. Sein Tagebuch beschreibt die Bedenken und Hindernisse, die heute nicht mehr bekannt sind". (Wilhelm Brick) Das Kapitel dieser Kirchengeschichte findet man in den Erlanger Taschenbüchern, Band 9: „Es begann am Rio dos Sinos" auf S. 157, Zeile 1. Für meinen Vater begann aber nun das Abenteuer Brasilien: (Tagebuch) "Am Freitag 11. 5. 1928 nachm. ein Uhr kam unser Zweischraubentotorschiff „Monte Olivia" der Hamburg - Südamerikalinie vor der Bucht Santa Catharina an. Auf einem kleinen Leichter waren die Hafenkommission, Polizei und Arzt herausgefahren, zugleich eine Anzahl von Gästen, die Bekannte und Angehörige abholen wollten, oder auch nur dem schönen Schiff einen Besuch abstatteten. Präses Bergold - Castro und Pastor Müller - Joinville suchten und fanden mich bald... Ein Funkspruch an die Gattin meldete meine gute Ankunft (3, 75 Mark). Nach dem letzten Abschied von den Reisebegleitern begann das Übersteigen auf den kleinen Dampfer - zuletzt ein Sprung! - der wie eine Nußschale neben dem großen 14000 to. Schraubendampfer schaukelte. Das Gepäck war schon im Transportkahn verladen. Um 3 Uhr fuhren wir unter dem Spielen der Musikkapelle ab. Gleichzeitig setzte das große Schiff seine Reise nach Rio Grande do Sul und nach Buénos Aires fort. Noch lange gegenseitiges Hut - und Tücherschwenken. Zwei Stunden langsame und sehr ruhige Fahrt auf der Bucht, zwischen Inseln und Ausblicken auf Berge: liebliche Bilder. Schließlich leuchten die weißen Häuser, Lagerschuppen und Landungsstege von Sao Franzisko do Sul auf. An Land Begrüßung durch Dr. Krappe, Sekretär des Vizekonsuls Dr. Selinka. 5 Uhr nachm. - auf dem Zollamt nichts mehr zu machen. Also Übernachtung im Hotel Brasil, d.h. Gasthaus Rühle, deutsches Haus. Abendessen, gemeinsames Schlafzimmer mit Präses Bergold. Zum ersten Mal ein Moskitonetz! - Am nächsten Tag Zollamt. Man läßt mich durch, ungeschröpft!!. (Nachher habe ich 30 Milreis hierfür geopfert!)" - Milreis = veraltete Portugiesische Währung. Zehn Milreis etwa 5. - RM. Nun beginnt gleich die erste Aufgabe, nämlich die einzelnen Gemeinden zu einer Kirche zusammenzuschließen, mit einem eventuellen Anschluß an den Bayerischen Gotteskasten: „Am Mittwoch (also 16. Mai) war eine Pastoralkonferenz, zu der 11 Synodalgeistliche erschienen sind. Über den Anschluß an Bayern wurde lang gesprochen, doch ohne greifbares Ergebnis. (Brief)". Dann schildert Vater die Schicksale der einzelnen Pastoren, die er jetzt kennengelernt hat und man plant eine Rundreise. Dabei kommt ihm die Idee, daß es sehr unbestimmt sein wird, die jeweilige Adresse, für die Post, anzugeben: „Die meisten Pfarrer der Synode wohnen weit ab von einer Poststation. Ende Juli bin ich in Rio de Janeiro. Vielleicht kannst du die Briefe dorthin an folgende Adresse senden: Freiherr von Bibra , Legacao Aletanniá, laissea postale 59, Rio de Janeiro. (d. h. an die deutsche Gesandtschaft, Postfach 59)." (Brief). Ponta Grossa, 4. Juli 1928 Auszug aus dem Gemeindeblatt der luth. Synode in Brasilien: Landgemeinde Dona Franziska: „Der Besuch des Herrn Dekan Volkert und des Herrn Präses Bergold hat in allen Teilen unserer Gemeinde, die besucht werden konnten, große Freude bereitet und wills Gott, auch überall Ermunterung und Stärkung bewirkt. Am Freitag, dem 25. Mai war die mit Palmen geschmückte Kirche in Rio Bonito, trotz des Werktags kurz vor den Pfingstfeiertagen, gut besetzt; besonders waren die Männer zahlreich vertreten, die den Worten des Herrn Präses Bergold ihres ehemaligen Pastors, und des Herrn Dekans, mit Interesse folgten und von denen er sich nach dem Gottesdienste auf einem Spaziergang in die gesegnete Bonitostr. gerne über die Verhältnisse in Deutschland ausfragen ließ. Der wichtigste Tag war der Pfingstsonntag in Padreira: Fast zuviel des Schönen kam hier auf einmal zusammen. Die durchgreifende Renovierung der Kirche ist zur Zeit fast fertig gestellt. - - - In diesem Rahmen fand nun die Konfirmation von 20 jungen Christen statt, denen dieser, für ihr ganzes Leben so wichtige Tag, durch die besonderen Umstände umso unvergeßlicher bleiben wird. Das Pfingstfest, der neue Altar und die hochwürdigsten Gäste , die Vertreter unserer lieben luth. Kirche, zu der wir uns in Glaubenseinigkeit bekennen. Herr Dekan Volkert predigte über Joh. 7, 37 - 39. „Aber am letzten Tag des Festes, der der höchste war, trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht." Der Ortspfarrer sprach danach zu den Konfirmanden ... Inselstraße: Am 22. und 23. Mai durfte unsere Gemeinde Herrn Dekan Volkert in Begleitung unseres Herrn Synodalpräses Bergold begrüßen... Am Abend fand eine Vorstandssitzung statt. Da die Inselstraße den Anfang unserer Gotteskastenarbeit bildet, und der Gründungsort unserer Synode ist, so wurde hauptsächlich über die interessante Geschichte unserer Gemeinde gesprochen. Herr Dekan empfahl, soweit noch nicht geschehen, die Geschichte der kulturellen Anfangsarbeit dahier zu erforschen, da sie für die Nachwelt stets wissenswert sein wird. Die Kinder werden noch lange an die herzlichen (in der Vorlage heißt es „herrlichen" W., was sicher ein Druckfehler ist) Worte des verehrten Gastes denken ... Man darf wohl sagen, der Besuch des Herrn Dekan diente dazu, die Gemeinde zu erfreuen und zu stärken und mit der deutschen Heimat enger zusammenzuschließen. gez. Dauner. (Pfarrer in Inselstraße, Joinville.) Ich habe anstrengende Reisetage hinter mir. Ganz neue Eindrücke von neuen, erst wachsenden Gemeinden habe ich gesammelt. Zuerst in Ouro Verde, bei Pf.. Weger .... Dann gings 136 km mit der Bahn zum nächsten Nachbar P Weiß in Porto Uniao. Dort einige schlimme Regentage, die einen Besuch in einer Kolonie unmöglich machten. Dann wieder zu einem nächsten Nachbarn in Rio das Antas, 173 km Bahnfahrt. De. einzige Zug geht nachts 1 Uhr ab bis früh 9 Uhr, hatte aber etwa 3 1/2 Std. Verspätung. Von hier aus machte ich einen Ritt nach Rio Preto, einer ganz neuen deutschen Kolonie. Die Wege waren nach tagelangem Regen unbeschreiblich! Das Pferd sank oft bis zum Knie ins Wasser. Auch durch einen Bach mußte man reiten. Schließlich kam man an einen Fluß, wo die Brücke zerstört war. Im Kahn setzten wir über und waren endlich am Ziel. Wir sahen ein nettes bescheidenes Holzbretterpfarrhaus, in welches nächstens eine junge Pfarrfrau einziehen soll. Deren Mutter, Frau Pfarrer Keßler N-Dettelsau, hat lange mit der Reiseerlaubnis gezögert. Aber wer „A sagt muß auch B sagen".... (Brief) Schon am 16. 5. war der erste Reiseplan ausgearbeitet worden, aber er wurde durch die schlechte Wetterlage so oft durchkreuzt, daß er immer wieder geändert werden mußte. „Nach einem Besuch beim Konsul Arens fuhr ich mit meinem Begleiter Wißnat, den ich am Bahnhof Viktoria ungefähr so begrüßte, wie der junge Tobias seinen Engel, in einem Fordwagen nach Santa Maria, Espirito Santo. Die Inselstadt ist seit Jahresfrist durch zwei lange eiserne Brücken, Fabrikat der Maschinenfabrik Augsburg - Nürnberg (MAN) mit dem Festland verbunden. Die Autostraße war nicht so übel, jedenfalls habe ich schon viel schlechtere ausgestanden. Nach 1 1/2 Std. waren wir in Cachoeira Sta Leopoldina. Dort bekamen wir in einem Deutschen Gasthof das erste ausgezeichnete deutsche Essen. Ich kann das Gasthaus jedem empfehlen! Ein Deutscher Kaufmann wußte, daß am Postamt ein Brief an mich liegt, so daß ich ihn nun einen Tag früher bekam." Hier erfährt er, daß seine Frau doch in ständiger Sorge um ihn ist und antwortet gleich: „Glaubst Du denn wirklich, daß ich andauernd in Lebensgefahr schwebe, zwischen Tigern und Klapperschlangen meinen Weg suchen muß? Ich versichere Dir, daß ich noch kein reißendes Tier gesehen, noch keinen Brüllaffen gehört habe und noch auf keine giftige Schlange getreten bin. Nur eine solche, von den Söhnen des Pastor Heß erlegt, sah ich noch in ihren letzten Zuckungen. Es war eine Korallenschlange, korallenrot, prachtvoll schwarzweiß gezeichnet, aber sehr gefährlich. Die Leute behaupten, sie habe ihren Giftstachel im Schwanzende, was Pastor Heß stark bezweifelte. Er schnitt das letzte Glied ab und fand, daß da kein Giftstachel steckt. Also wird auch bei dieser Sorte der Biß das Gefährliche sein. (Brief) Bei Vaters Rundreisen hat er fast alle Pastoren kennengelernt und viele Sorgen und Nöte anhören müssen." Die Kirchengemeinden mußten nach brasilianischem Recht als „Vereine" organisiert werden mit erstem Vorsitzenden, Schriftführer und Kassierer. Der Pfarrer war Angestellter der Gemeinden und hatte auf der jährlichen Generalversammlung nur Stimmrecht. Der Mitgliederbeitrag der Vereinsmitglieder betrug für die Familie jährlich 4 - 10 Milreis (= 2 bis 5 RM). Die unzureichenden Pfarrgehälter und Beiträge sind ein wesentlicher Punkt der Frage des Anschlusses. Ein Jahresgehalt von 4 Contos , das etwa 2000, - - RM entspricht, langt nicht, wenn man bedenkt, daß ein Maultier, ohne das kein Pastor sein kann, schon 1 Conto, also ein Viertel des Jahresgehaltes kostet. Dabei ist zu erwähnen, daß kein Bargeld auf der Kolonie war, so daß die Bauern auf Gütertausch angewiesen waren. Nur der Kaufmann (Vendist) verfügte über Bargeld. Unter dieser Geldwirtschaft litten auch die Lehrer. So waren die Kirchengemeinden bestrebt, neue zahlende Mitglieder zu werben. Das geschah oft auf bedenkliche Weise, durch Abwerbung. Außerdem übte man Kirchenzucht, das heißt, es wurde die Beerdigung verweigert bei Zahlungsunwilligkeit oder -unfähigkeit. Auch war sie häufig Anlaß zu Streitereien zwischen Mitgliedern verschiedener Kirchengemeinden. (Wilhelm Brick.) Bei dieser schrecklichen Geldnot blieben die Kinder viel zu lange in der kleinen Dorfschule, die in der Hauptsache auch von den Pfarrern geführt werden. "In Santa Maria, Espirito Santo gibt es eine brasilianische Lehrerin, die kein Wort Deutsch versteht und nichts lernen will. Sie wohnt und ißt auch im Pfarrhaus. Sie unterrichtet 20 deutsche Kinder, die keine Silbe Portugiesisch verstehen. Ich möchte dabei zuhören oder zusehen!! Gestern war ich bei Pastor Rölke in der Schule, wo 80 Kinder der verschiedensten Reifegrade Unterricht haben. Er hat da viele Mühe, manchmal Hilfe von Frau oder Schwägerin." Auszug aus dem Heft: „Deutsches Luthertum in Brasilien", von Dekan Gottlieb Volkert, in Windsheim (Mittler.) mit drei Bildern: „War es mir auch leider nicht möglich, den Besuch in Espirito Santo länger als drei Wochen auszudehnen, so zeigte sich mir doch manche Eigenart der dortigen Gemeinden. Sie unterschieden sich doch in manchen Stücken von den Gemeinden in Santa Catharina. Wie abgeschlossen war doch Espirito Santo bisher! Erst dem Kraftwagen zuliebe, der jetzt gebieterisch Einlaß verlangt, werden dort fahrbare Straßen angelegt. Der ganze Verkehr vollzog sich bis vor kurzem ausschließlich auf schmalen Saumpfaden, die gerade einem Reiter Raum lassen, so daß es oft schwer fällt, einer des Wegs kommenden, mit Fracht beladenen Eselstruppe, auszuweichen. Der hauptsächlich von den Kolonisten betriebenen Kaffeeanbau hat sich lange Zeit gut gelohnt. Aber die beliebteste Kapitalanlage war der Erwerb neuen Landes. So ist die ganze Lebenshaltung sehr anspruchslos geblieben. Gelegenheit den Kindern höhere Ausbildung zu geben, fehlt vollständig. Ja schon die Frage des elementarsten Volksschulunterrichts ist ein Gegenstand steter Sorge unserer Pastoren. Espirito Santo ist das Land der bescheidensten Kolonieschulen. Obwohl die deutschen Bauern sehr zahlreiche Familien haben, ist es schwer, größere Schulen einzurichten und dem Schulunterricht die erforderliche Zeit zur Verfügung zu stellen. ln den dünn bevölkerten Tälern kommen nur die Kinder vom zehnten bis dreizehnten Jahr zur Schule, und zwar nur zwei Tage wöchentlich. Als Lehrer aber werden einfache Kolonisten aufgestellt, die keinerlei Fachausbildung haben. Durch Jahrzehnte hat man sich mit diesem Notbehelf begnügt. Man hat sich an die Mängel dieser Schule gewöhnt und versteht es nicht, daß etwas daran gebessert werden soll. Die Pastoren bemühen sich freilich, den Gemeinden begreiflich zu machen, daß die Aufwendungen für bessere Schulung der heranwachsenden Jugend sich bald lohnen. Scheut man aber diese Aufwendungen, so geht der Jugend unfehlbar verloren, was die Vorfahren als geistigen Besitz aus der alten Heimat mitgebracht haben." (Zitatende.) So war es nicht verwunderlich, daß Vater Volkert den Bitten der Familie Knörr, Fugmann und Mittelmaler nachgegeben hat und einwilligte, drei Pastorensöhne mit nach Deutschland zu nehmen, wo er hoffte, daß sich Leute finden würden, die sich ihrer annehmen könnten, denn angesichts dieser schlicht und einfach erzogenen Buben, meinte er willige Helfer zu finden. Außerdem war für Herbert Fugmann in Aussicht gestellt worden, daß Verwandte aus Elbing, bei Danzig ihn in Hamburg abholen werden. Die beiden übrigen, hoffte er, gut unterzubringen. So schrieb er an seine Frau: „Am Montag regle ich die Rückfahrt, die wahrscheinlich erst am 30. Sept. erfolgen kann. Du bekommst Nachricht, sobald das in Ordnung ist. Herr von Bibra will dafür sorgen, daß die drei Pflegesöhne, die ich mitbringe, auf dem Schiff Ermäßigung bekommen. Es sind drei: Walter Knörr, der zu uns kommt, Walter Mittelmaler, den wir zuerst auch behalten, später an seine Verwandten abgeben können, Herbert Fugmann, der nach Elbing kommt. Alle drei Eltern sind beglückt von der Aussicht, daß nun ihre drei Kinder eine bessere Ausbildung bekommen. Muß da unsereiner nicht eingreifen? Vielleicht finden sich Familien, die sie aufnehmen können, besser als wir selbst!" Meine Mutter schreibt an ihre Schwiegereltern nach Nürnberg: „Die Überraschung mit den Pflegesöhnen, ist ausgezeichnet"!. Das war bestimmt untertrieben ! So war also die Rückreise mit den drei Buben beschlossene Sache. Leider konnte mein Vater für die Kinder keine Ermäßigung bei der Schiffsleitung erwirken: sie seien keine caritative Vereinigung, sondern ein Passagierdampfer einer großen Schiffahrtslinie, der Hamburg - Süd -Amerika - Linie! Jedoch hat dann der Deutsche Botschafter schließlich doch eine Ermäßigung heraus gehandelt. Diese Treffen in der Gesandtschaft werden immer wieder gemütlich, wie eine erholsame Stunde beschrieben „Beim Deutschen Gesandten war ich heute vor acht Tagen (7.7.) zu einem Bierabend eingeladen. Im Herbst wird er selbst nach Deutschland reisen, auch Bibras (Irmelshausen) besuchen. Vielleicht kommt er dann auch zu uns. Der junge Bibra war sehr nett und entgegenkommend, auch der unierte Pfarrer von Rio, ein Pfälzer. Aber am meisten Gastfreundschaft erwiesen mir und meinem Begleiter, Pastor Fugmann und die Familie Gies, ein Großkaufmann aus Hof. Diese wollen auch nächstes Jahr nach Deutschland kommen. Wenn alle neugewonnenen Bekannte uns besuchen, dann haben wir keine Langweile zu befürchten". (Brief). So ist das Ende der Sendung nahe. Bis zum Schluß werden noch Klagen und Schwierigkeiten an ihn herangetragen. (Tagebuch 27.9.): "Ich kann am letzten Tag nicht mehr eingreifen. Ich rate zu einer Gemeindeversammlung um alle Anklagen vorzubringen. Das Ergebnis an Pastor Schlünzen mitteilen oder an Präses Bergold berichten"... Fast kann er sich nicht lösen, aber dann geht's an die Bahn, Abschied von den Angehörigen der Kinder, Schwester Clara Frank, Pastor Tigge, zwei weitere Mitreisende um die er sich kümmern soll, dann legt der Zwei - Schrauben - Dampfer Monte Cervantes ab in der Bucht von Sao Francisco do Sul. Die Heimkehr nach Rothausen war ohne Probleme erfolgt. Am Morgen nach der Ankunft saßen unsere neuen Kameraden mit uns um den zweimal ausgezogenen Tisch im Wohnzimmer. Die Bewohner des Dorfes stellten sich ein. Mit fadenscheinigen Gründen hatten alle irgendetwas im Pfarrhaus zu besorgen. Freilich wurde auch der, gesund wieder heimgekehrte Herr Dekan gebührend begrüßt, aber die Neugierde konnte niemand verbergen. Wie sahen diese „Brasilianer" aus? Womöglich sind es Schwarze! Keiner hatte je einen solchen gesehen. Aber die Buben mußten die Neugierigen enttäuschen. Schlank und rank und blond und heimwehkrank sahen sie aus, kein bißchen anders als ihre eigenen Buben. Da sie aus den Tropen kamen, so froren sie alle ein wenig, auch wenn der Kachel­ofen schöne Wärme ausstrahlte. Der erste Schnee brachte sie in helles Entzücken. Mit offenen Mündern rannten sie im Hof umher - sie hatten noch nie einen Schneefall erlebt - und ließen sich in den Mund schneien. Auf solch eine Idee waren wir noch nicht ge­kommen, aber wir machten alles nach. Verzweifelt stand die Mutter unter der Haustür und wollte Mützen und Schals austeilen, aber da mußte sie noch eine Weile warten, bis der erste Rausch vorbei war und jeder wieder die Kälte spürte. Gerade dieser Winter, 1928/29, unser letzter in Rothausen, war mit großer Kälte und mit sehr viel Schnee monatelang unerbittlich über uns gekommen. Vater und Mutter hatten aber viel zu tun um alles abzuwickeln, was noch in Rothausen nötig war, denn unsere Versetzung nach Windsheim war schon perfekt. Vater konnte noch seinen Brasilienbericht fertigstellen. Außerdem mußten nun doch für die Buben andere Lösungen gefunden werden, da keine Verwandten auf der Bildfläche erschienen. Schließlich kamen Herbert Fugmann und Walter Knörr in ein Internat nach Öttingen. Die Verwandten wollten sich wohl nur an den Kosten beteiligen und die Buben als Feriengäste aufnehmen. Wer für die Kosten aufkam, das entzieht sich meiner Kenntnis. Walter Mittelmeier 4 sollte mit uns nach Windsheim ziehen. Da aber die Schule unmittelbar nach Ostern begann und unsere Installation erst am 2. Juni angesetzt war, so entschloß sich unser Vater, Walter schon im April nach Windsheim zu senden, wo er im 2. Pfarrhaus untergebracht wurde. So hatte Vater sehr entscheidend daran mitgearbeitet, daß in Brasilien eine einheitliche Kirche gegründet werden konnte, aber was in Windsheim auf ihn zukommen würde, das hat ihm niemand verraten. Letzter Eintrag meiner Mutter im Geschwisterrundbrief: 23.4. 1929 :„Nun wird also unser ewiges Jammern über die hiesigen Verhältnisse ein Ende haben. Kommt alle und seht, ob es uns in Windsheim besser gefällt." Windsheim Der erste Eintrag im Geschwisterrundbrief stammt vom B. Dezember 1929 nachdem wir also schon ein halbes Jahr in Windsheim Fuß gefaßt hatten. So will ich zuerst meine eigenen Erinnerungen sprechen lassen. Nach tränenreichem Abschied von den Rothäusenern stiegen wir alle in die große Kutsche ein, die uns samt unserem Handgepäck nach Mellrichstadt zum Zug bringen sollte. Zwei andere Abschiede waren schon vorher geschehen, als nämlich, die beiden Brasilianerbuben, Herbert Fugmann und Walter Knörr, zwei Tage vor dem Ende der Osterferien nach Öttingen ins Internat fahren mußten. Und Walter Mittelmeier, der mit uns in Windsheim leben sollte, fuhr auch schon Ende April dorthin, aber vorläufig ins zweite Pfarrhaus zu Pfarrer Fuchs, damit er pünktlich zu Schulbeginn am Klassenanfang mit dabei war und nichts versäumte. (So ahnungslos war mein Vater, daß er keinen Begriff hatte davon, was in Windsheim für eine Gesamtstimmung herrschte, daß er den Pflegesohn in die „Höhle des Löwen" sandte! Aber Näheres davon später.) Unser Abschied und unsere Abfahrt spielte sich erst Ende Mai ab. Zwei große Möbelwagen der Firma „Feldner und Sorg", die erst gegründet worden war und in späteren Jahren fast alle Pfarrersumzüge bewältigte, hatten einen Tag lang Studierzimmer mit sämtlichen Büchern, das Gastzimmer und die Schränke geschluckt. Für die Nacht fuhr der Fahrer mit allen Packern ab, wie wir annahmen, nach Mellrichstadt, wo sie einen festen Standplatz für die Wagen und Übernachtungsmöglichkeit für sich selber schon ausgehandelt hatten. So stiegen wir ein letztes Mal in unsere Betten, aus denen wir schon in aller Morgenfrühe heraus gescheucht wurden. Nun wurde uns die letzte Heimat entrissen, das warme Bett! Das leere Haus war wie eine unwirtliche Höhle geworden, die wir nur zu gerne verließen, Heimat war das nicht mehr. Etwas verdutzt sahen wir dem schweren Auto nach, das ohne Anhänger heute wieder erschienen war. Wo war all unser Besitz gelandet? Er befand sich auf Rädern und auf unwirtlichen Straßen; wir stan­den mit leeren Händen und nur mit dem notwendigsten Kleingepäck besitzlos auf dem Pfarrhof. Ich kann mich noch an das dumpfe Gefühl erinnern, als ob sich der Boden unter den Füßen gelöst hätte. Den Erwachsenen gings wahrscheinlich nicht so, denn sie wußten die Möbel in „besten Händen". Aber nun kam zunächst einmal die lange Bahnfahrt. Es war nicht unsere erste, denn wir Kinder waren alle schon einmal in Nürnberg gewesen. Auch brachten wir fünf Wochen, als unser Vater in Brasilien sich aufhielt, bei der Großmutter in Rummelsberg zu. Damals ging meine große Schwester Marie dort sogar in die Schule. Aber nun, diese Fahrt, die uns immer weiter von allem, was uns vertraut war, entfernte, bei der wir das Ziel nicht kannten, d. h. nur dem Namen nach; diese Abreise bedeutete einen Abschied für immer. Ich glaube, ich fühlte dieses Hinausgeworfensein ins Unbekannte ganz stark! Es ist nur schade, daß Kinder ihre Gefühle noch nicht in Worte fassen können. Sie können sich nur an die Mutter schmiegen oder den Vater ständig mit Fragen quälen: Wann kommen wir denn an? oder: Gibt's bald was zu essen? - die Küche rollte ja auch irgendwo - - - Schließlich sagte der Vater: So jetzt schaut einmal hinaus, wir sind jetzt in Mittelfranken!" Ich glaube es war unser Friedrich (4 Jahre alt), der hinausdeutete und sagte: „Dort ist unser Möbelwagen. Wir fahren mit dem um die Wette 1 Vater und Mutter wie aus einem Munde: „Das gibts doch nicht, der hat ja keinen Anhänger"! (B 8 zwischen Neustadt und Langenfeld) Er war es aber doch. Groß leuchtete die Aufschrift „Feldner und Sorg" von der Straße herüber. Ganz gegen jede Abmachung hatten die Möbelpacker den Anhänger schon am Vorabend auf einen Güterwagon gehievt und befanden sich nun mit der Restladung von heute morgen auf dem Weg nach Nürnberg. So kamen wir früher als unsere Möbel in Windsheim an. Das Dekanat starrte uns mit genau der gleichen Leere an. Wo sollen wir heute schlafen? Auf dem Postamt lag ein Telegramm, daß erst am nächsten Morgen mit dem Ausladen angefangen werden könne, da bis dahin hoffentlich (!) auch der Anhänger, auf dem Güterzug, in Nürnberg, ankäme. Hier weiß ich nun nicht, ob eine Übernachtung im dritten Pfarrhaus in Windsheim eingeplant war. Eigentlich hätten die Möbelpacker, die zuletzt eingeladenen Betten, als erstes ausladen und in die richtigen Zimmer einstellen können, für eine provisorische Übernachtung. Bei den hellen Sommerabenden wäre diese Möglichkeit mit Überstunden schon zu bewältigen gewesen. Nun waren wir Gäste des dritten Pfarrhauses bei Pfarrer Spatze. Wie herrlich schmeckten die Pellkartoffeln mit Quark und Butter! Das erste warme Essen heute! Dann kümmerten sich die „drei Spatzestöchter" um uns. Mein schwacher Protest "Ich bin doch schon groß, ich kann mich alleine waschen", wurde nicht erhört, „Nix da, du kannst ja nicht mehr stehen!" Energisch wurde ich auf einen Tisch gesetzt und abgeschrubbt. Alles weitere entzieht sich meiner Erinnerung. Ich wachte auf, im Zimmer war schon alles hell, aber ich konnte mich absolut nicht in die Weltgeschichte einordnen. Da sah ich meine große Schwester neben mir liegen, also werden auch die Eltern nichtweit weg sein, dann plötzlich die Erleuchtung: `Wir sind ja in Windsheim!" Das Neue kann beginnen. Nun kam früh bald der vollständige Transport aus Nürnberg und wir wurden belehrt, daß eine so weite Fahrt, auf diesen unendlich schlechten Straßen, für solch einen Supertransport, viel zu gefährlich gewesen wäre. Der Transport auf der Schiene sei schneller und sicherer. Aber darüber hätten die Eltern früher aufgeklärt werden müssen. Dann wären eventuell wir zwei Kleinen schon woanders untergebracht worden und erst bei eingerichtetem Haus wieder auf der Bildfläche erschienen. Nun aber waren wir, trotz dieser beiden Pannen, (Walter bei feindlich gesinntem Kollegen, verspätete Ankunft der Möbel) wieder eine Familie in einer neuen „Welt". Nach Vaters Installation als Dekan am 2. Juni begann der Alltag: Walter und Marie mußten wieder in die Schule. Vater nahm zuerst mit den Kollegen, denen er beiden ja schon zu hohem Dank verpflichtet war, Fühlung auf. Der dritte Pfarrer von Bad Windsheim hatte vor allem „Külsheim" zu versorgen. Dazu unterrichtete er noch im Progymnasium. Allmählich konnte Vater sich ein Bild machen von der Situation, die nach dem Tod seines Vorgängers, Herrn Dekan Bauer, in Windsheim entstanden war. Nun will ich wieder die Geschwisterbriefe sprechen lassen: 10.12.29. „Das folgende Bild ist eine liebe Erinnerung an den ersten Besuch der lieben Großeltern im Sommer bei uns in Windsheim. Heute könnten wir aber nicht so stolz aufmarschieren wie damals., denn alle vier (Kinder) liegen fest im Bett mit Masern. Walter wohnt im Südzimmer, das auch einen guten Ofen hat, die drei unseren, im großen Eckschlafzimmer, wo die Mutter sie Tag und Nacht pflegt. Tüchtig herausgekommen sind die roten Flecken schon. Hoffen wir, daß sie bei allen ohne Nachkrankheiten bis Weihnachten wieder verschwinden. Andere „Akklimatisationsschwierigkeiten" sind noch nicht überwunden. Es ist wohl so wie Thomas Breit (Studienfreund) mir neulich schrieb, daß man zur Kleinstadt eigentlich nur ein ästhetisches Verhältnis haben kann. Ich bin aber - und das nach meinem eigenen Willen - gezwungen ein ganz praktisches Verhältnis zu ihr zu gewinnen. Die Windsheimer als Ganzes (um nicht zu sagen als „Masse") lieben es, sich zunächst von ihrer unliebenswürdigsten Seite zu zeigen. Ich wußte ja nicht, daß sie um jeden Preis ihren 2. Pfarrer, Fuchs, als Dekan haben wollten. Nun lassen sie mich es fühlen, daß ich als ungebetener, ja sogar als verbetener Gast, zu ihnen ge­kommen bin. Ich muß aber schauen, daß ich zurecht komme, und bemühe mich eben, so gut ich es verstehe, mich in die mißlichen Umstände zu fügen. Ich bin dabei nicht hoff­nungslos. Aus der Ethik von Claß, dem ehrwürdigen Erlanger Philosophen, weiß ich nicht mehr viel. Aber eins hat mir Eindruck gemacht. Er sprach gern vom kategorischen Indikativ: es wird gehen!" So hat ihn sein Humor immer wieder über manchen Ärger hinweg geholfen. „Allmählich lernen wir auch dies und das im neuen Nest kennen. Mit Sorgen und Bangen denkt man ans Pro­gymnasium mit Realschule, dessen Fortbestand wir durch Gründung eines Schülerheims sichern möchten. Aber plötzlich wollen die Stadtväter das Sparen anfangen. Die drei Parteien, die sich am 8. Dezember um den curulischen Sessel gestritten haben, wollen sich gegenseitig im Sparen überbieten. So ist halt die Gründung des Schülerheimes wieder fraglich geworden. „Aber etwas anderes, das der nachfolgende Dekan zügig zu Ende bringen mußte, das durch den Tod des Vorgängers ins Stocken geraten war, das ist die Kirchenrenovierung. Ein Herr Architekt Meyer aus Nürnberg, hat seine Vorbesprechungen mit Dekan Bauer durchgeführt und die Kirche einfach weiß gestrichen. Das Gestühl hellgrau. Nur Kanzel und Altar und Orgel zeigten sich so wie im Jahre 1730, beim Wiederaufbau nach einem verheerenden Brand in barockem Stil. Nun wirkte die Kirche in der Gesamtsicht noch kälter als sie in Wirklichkeit war. An irgendeine Heizung war nicht gedacht worden. So blieb es bei der alten Einrichtung, daß im Winter die Spitalkirche für alle Gottesdienste verwendet wurde, da man diese heizen konnte. Was auch wohlmeinende Gemeindemitglieder aufregte oder in Opposition treten ließ, war die Einteilung von ganz Windsheim in zwei Sprengel. Von der Johanniterstraße über den Marktplatz bis zum „Schönen Brunnen" mit dem Standbild Kaiser Karls VI. verlief die Grenze. Mit Seegasse und Bauhof gab es dann noch Grenzstreitigkeiten. Irgendwie mußten diese beigelegt werden. Alle die östlich dieser Linie wohnten, gehörten zum 2. Pfarrsprengel, also momentan zu Pfarrer Fuchs, später zu Pfarrer Jäger. Nach Westen zu war der Dekanssprengel. Das war wichtig für die Konfirmanden, die nun auch in zwei große Gruppen geteilt waren. Alles Neue in der Kirchenordnung wurde zuerst einmal abgelehnt. Aber hier zeigte sich schon die Standfestigkeit des Dekans. Er konnte ja nichts dafür, es war ja schon lange geplant. Geschwisterbriefe 1930 /31 Schon in dieser Zeit kommt immer wieder die Politik den Geschwistern und Vater in die Feder: 31.8. 1930. Nun stehen wir vor den Reichstagswahlen. Das Ergebnis wird die große Zerrissenheit und Zerfahrenheit offenbaren. Ich bedaure am meisten die Zerschlagung der Deutschnationalen Partei durch die Absplitterung des Landvolkes, das hier in Franken mit dem rötlichen deutschen Bauernbund und dem schwarzen Niederbayer. Bauernbund zusammengeht, dann die konservative Volkspartei, deren Ziele mir ebenso schleierhaft sind wie die des „Christlichen Volksdienstes". Hier in Franken wird der einzige Erfolg dieser letzten Partei, der sein, daß sie viele Stimmen von rechts stehenden Wählern den großen Parteien entzieht". Dann nach dem Klagen über ständig neue Notverordnungen, die nach vier Wochen wieder hinfällig werden, schreibt er: „Unser jetziges Regieren in Berlin und in München hätte man früher ein „Fortwursteln" genannt. Jetzt ist dieses Verfahren patentiert und gesichert. Trotzdem muß ich sagen, daß die Opposition der Deutschnationalen unbedingt nötig ist. Es wäre unrecht, wenn sachkundige und einsichtsvolle, kenntnisreiche und hochgebildete aufrechte Männer zu all dem was jetzt uns zugemutet wird, schwiegen ! ... Die Agitation der National - Sozialisten kann ich nicht in allen Stücken billigen. Ihr Führer ist nicht frei von Selbstüberhebung, man sieht es ihm an. Und seine Unterführer tragen die verschiedensten Schattierungen von national und sozialistisch an sich. Wie einmal die Resultante der verschiedensten Kräfte in dieser Massenpartei verlaufen wird, das sieht noch niemand." Heimatfest Brief vom 31 Aug. 1930: "Vor acht Tagen feierte Windsheim Kirchweih und Heimatfest. Wir erlebten in diesen Tagen mit wachsendem Staunen, wie anhänglich Windsheims Söhne und Töchter an ihre Heimat sind. Von Nürnberg kam ein stattlicher Heimatverein. Von Berlin, Gelsenkirchen, Nordamerika und aus allen Teilen Deutschlands waren sie gekommen: Einfache Handwerker, Ingenieure, Kaufleute, Beamte aller Grade, Pfarrer, Ärzte, Oberregierungsräte. Überall herrschte Eintracht und Gemütlichkeit. Gregor Strasser (3), der Nationalsozialist und Dr. Hilpert, der deutschnationale Führer, labten sich am Wein derselben Kneipe. Burgfriede war auch zwischen den Vereinen, die ganz zurücktraten, hinter der alle einigenden „Heimat". Tagelang besichtigten sie die altbekannten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Oberstudienrat und Gendarmeriewachtmeister trafen sich beim Konzert. Allen Respekt vor der Leitung des Ganzen. An der Heimatzeitung und der eigens erschienenen Windsheim-Nr des „Bayernlands" arbeiteten allerdings mehr Nichtwindsheimer. Aber sie fanden das höchste Lob, daß sie „beinahe so geschrieben haben, als wären sie echte Windsheimer." „Unsere Gäste waren Senior Mebs von Kitzingen, inzwischen ein alter Herr von fast 70 Jahren, der zum ersten Mal auf der hiesigen Kanzel stand. Mebs war seit 1876 zweimal nur ganz kurz hier und hat jetzt erst seine Vaterstadt richtig entdeckt. Er fiel von einem Entzücken ins andere und hat uns in Aussicht gestellt im Herbst noch einmal für acht Tage zu kommen .... Mein Kirchturm Anfang April 1930 kam ich in die Schule; so ist Windsheim mein geistiger Geburtsort geworden, wie ich immer sage. Aber wohl doch nicht ganz. Schon in Rothausen verkündete ich den Brasilianerbuben: "Ich kann schon bis 200 zählen." Da lachten sie: „Wenn du bis 200 zählen kannst, so kannst du doch auch bis 300 zählen." „Wieso?" Da sagten sie mir den Trick: „Es geht doch genauso weiter : 201, 202, 203, usw. „Ach so" . Eine Weile war ich still . Dann sagte ich : „Ich kann jetzt bis 10 Hundert zählen. „ Da wurde ich wieder ausgelacht: „Das heißt doch Tausend ,,. So was hatte ich noch nie gehört, aber ich merkte mir's gleich. Vater wurde von dem neuen Wissen seiner Tochter sofort informiert. Gleich prüfte er mich mit vierstelligen Zahlen. Zuerst die Jahreszahlen und dann alle möglichen. Es machte mir richtigen Spaß. So wurde ich manchmal den Besuchern vorgeführt, die baß erstaunt waren, daß ich mit 5 Jahren schon vierstellige Zahlen richtig lesen konnte. So sagte Vater kurz vor Schulbeginn: „Manche Kinder können schon vor der Schule lesen, aber das haben wir nicht forciert, sonst wäre es dir ja viel zu langweilig in der Schule geworden." Daß ich nun fast nicht das „Rechnen" ertragen konnte, das die andern mit einer Rechen"maschine" aufführten., das Rüber- und Nüber - Gezähle, eins zwei drei - - -„Das sieht man doch mit einem Blick, daß dies da drüben drei sind und das andere vier." Ich glaube, damit habe ich meine Lehrerin, Fräulein Sauer, ganz schön genervt. Mein Vater sandte mich, schon ziemlich am Anfang unseres Hierseins, mit einem Brieflein zu den Turmleuten. Der Windsheimer Kirchturm war nämlich noch von einem Türmer mit Familie bewohnt. Freilich befand sich unten am Turmeingang ein Briefkasten, aber Vater wollte, glaube ich, eine Antwort haben. So zog ich an der Klingel, zu der ich gerade mit den Zehenspitzen hinauf reichen konnte und läutete Sturm. Bald schaute Frau Guggenberger herunter und warf mir den Schlüssel auf einen weichen Fleck des „Kirchenbucks" herunter. Nun hieß es, um den Sakristeieingang, unter den Rathausbogen, durchs Tor auf den Schulplatz der Lateinschule, zu springen. Dort war erst der Eingang zur Turmbesteigung. Ziemlich atemlos droben angekommen, erfreute ich mich gleich wieder an dem niedlichen Turmstübchen, in dem ich schon einmal mit meiner Mutter Besuch gemacht hatte. Die schmale Treppe, die ins Schlafzimmerchen darüber führte, stand auch noch mitten in dem Kämmerlein. Eine schmale Tür führte auf den „Kranz", um den ich gleich herum hupfte, bis die Antwort fertig war. Dann sprang ich wieder hinab. Seitdem war es „mein Turm". Wie oft bin ich in Begleitung meiner Schulfreundinnen hinauf gestiegen, ohne jeden Schwindel beugten wir uns hinab auf den Marktplatz mit seinen kleinen Menschlein oder den Buden, wenn Markttag war. Einmal sahen wir auch wie ein alter Fabrikschlot der Firma Maschinenfabrik Hofmann gesprengt wurde, wie diese große feste Steinkonstruktion wie ein müdes Tuch in sich zusammensackte und nur eine Wolke Staub zunächst zurückblieb. Als diese sich verflüchtigte, war der Horizont leer. Zu jeder Jahreszeit konnten wir etwas anderes entdecken. Eines Tages kam Vater heim und verkündete: "Der Kirchturm ist beflaggt!" Mutter: „Wieso denn?" „Frau Guggenberger hat die Windeln aufgehängt, rund um den Kranz" . "Stören sie dich? Soll die Berta hochlaufen und ihr das verbieten?". Ich horchte gespannt auf die Antwort. Vater: „Nein, nein , - ich atmete auf - „ich habe nur gedacht: Der altehrwürdige Kiliansturm ist wohl zur Zeit der stabilste Windeltrockenständer in ganz Deutschland". Wir lachten," und übrigens kommen die Windeln ja in der Bibel vor und mir wird jetzt erst so richtig ganz deutlich, wie tief sich der Höchste herabgeneigt hat zu uns Menschenkindern, daß er Mensch wurde, mit all den Windeln usw. Bald wird ja auch das hohe und hehre Himmelsgestirn, die Sonne, die Windeln der kleinen Erdenbürgerin getrocknet haben!" O So ähnlich war sein Kommentar. Wie froh war ich, daß der Kirchturm nicht zu würdig war, Windeln Platz zu geben und daß es mein Kirchturm blieb. Das letzte Erlebnis, das ich mit dem Kirchturm hatte, war weniger erfreulich. Wir hatten eine Zwischenstunde, d.h.. eine Stunde frei aus welchem Grund auch immer. Unsere Schule befand sich damals im Rathaus. Dort im ersten Stock grenzen die Klaßzimmer direkt an den Kirchturm an. Bloß im Schulhof herumzulaufen und womöglich für die nächste Stunde noch zu lernen, das wollten wir nicht. Das Wetter war viel zu schön. „Wir gehen auf den Turm." Merkwürdig, Frau Guggenberger warf mir immer ohne Murren den Schlüssel bereitwillig herab. Wir stürmten zu acht die Wendeltreppe und dann die letzten Holzstiegen empor und landeten auf dem Kranz. Für acht Mädchen auf einmal war das Turmstübchen nicht gedacht. Aber wir wollten sehen, ob wir die Walkmühle z. B. erkennen konnten, am Fuße des Galgenbucks oder ob die Dampfeisenbahn durch die Felder nach Neustadt a.D.. Aisch unterwegs ist. Überhaupt vielleicht die Aisch? Hin und her ging es ohne jedes Schwindelgefühl. Die Dreiviertelstunde war bald vorüber. So hieß es wieder hinabzusteigen. Jede Luke bot noch einmal interessante Ausschnitte. Wir jubelten und schrien, wir konnten unsere anderen Schulkameraden durchs Fenster sehen und kamen quietschfidel unten an. Da empfing uns unser Mathelehrer, Studienrat Schirmer, sehr ernst: „Was habt ihr euch denn gedacht, solch ein Geschrei zu machen? Überall sind doch die Fenster offen! Alle Mädchen eine Stunde Arrest! So mußten wir unsere schöne Zwischenstunde und unseren Ausflug auf den Turm, mit einer Stunde Arrest bezahlen. Das hat uns noch lange gewurmt! Noch etwas Schönes, Feierliches, spielte sich täglich auf dem Kirchturm ab: das Turmblasen. Bei Einbruch der Dunkelheit oder zu einer bestimmten Stunde ließen 3 - 4 Trompetenbläser bekannte Choräle ertönen! Bald hatten wir die Melodie erkannt und wir konnten in Gedanken den Text dazu sprechen. Es waren meist Lob - und Danklieder oder Lieder von Paul Gerhardt. Einmal kam Vater etwas kleinlaut, während des Blasens ins Wohnzimmer und sagte: „Das habe ich nicht angeordnet, so taktlos will ich nicht sein." Er hat aber doch ein wenig dabei geschmunzelt. Was war geschehen? Die Bläser hatten das evangelische Schutz und Trutzlied Martin Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott!" angestimmt und spielten alle vier Verse durch. Warum sollten sie nicht? Heute war den ganzen Tag bischöfliche Visitation in der katholischen Gemeinde gewesen, und der Bischof war noch da! Man plante den Bau einer katholischen Kirche, 1938 wurde sie gebaut. Begegnen der Armut bis 1933 In Windsheim gab es damals (d. h. es gibt sie noch heute) eine Frauenvereinigung, den „Deutsch - Evang. - Frauenbund." Diese Frauen hatten sich zum Ziel gesetzt ihren christlichen Glauben praktisch zu leben. Als wir 1929 in der Kleinstadt Windsheim ankamen, machte sich die schlechte Wirtschaftslage des ganzen Landes natürlich auch hier katastrophal bemerkbar. Es gab so sehr viel Arbeitslose, und die Frauen konnten, mit ihren großen Familien nicht als Putzfrauen den Unterhalt für alle zusätzlich aufbessern. Oft waren sie kränklich oder es stand wieder ein Wochenbett bevor, die Not war sehr groß. Hier haben nun die wohlhabenderen Bürgerinnen sich in verschiedenster, prakti­scher Weise der Not angenommen. 1. Wöchnerinnenbetreuung. Durch die Hebamme wurde dem Dekanat gemeldet, wer neuerdings im Wochenbett liegt. Es waren in den meisten Fällen Hausentbindungen. Nun begann ein dreigestapelter Topf in einer Runde zu kreisen: Am Vormittag wurde bei der Dame, die „dran" war, von meiner Mutter (manchmal mit mir) das mit Essen gefüllte Gefäß (1. Schale: Suppe, 2. daraufgesetzte Schale Kartoffeln, oberste Schale Gemüse und eventuell Fleisch) abgeholt und zur Wöchnerin gebracht. Wenn größere Kinder da waren, so mahnte man diese, am Schluß alles abzuspülen und das Gefäß zur nächsten Dame zu bringen, die am 2. Tag dran war. So lief die Geschichte etwa acht Tage lang, bis die Wöchnerin durch dieses selten gute Essen wieder gestärkt aufstehen konnte. Manchmal war auch unsere „Anna" - so will ich unsere Hausgehilfin forthin nennen - die Austrägerin, die dann bei der Wöchnerin sitzen blieb, und das leere Geschirr mit nach Haus zum Spülen nahm und es der nächsten Frau brachte. Dieser Wöchnerinnendienst wurde nicht von der NS - Frauenschaft übernommen! Er blieb aber bis zum Schluß bestehen. 2. Sollte eine Mutter mit Schulkindern einmal durch Krankheit ausfallen, so saßen, wenn wir von der Schule heim­kamen, manchmal eins oder zwei Kinder schon am Tisch, die ein warmes Essen, wenigstens einmal am Tag, bekom­men sollten. Von einer Familie weiß ich es noch, weil mein Vater immer mit diesen schüchternen Gästen seine „Späßle" machen mußte, z.B..: „Wer am meisten Kartoffeln ißt, kriegt a Fünferle!" Das löste die Befangenheit. Mutter kochte immer große Portionen und ein Fünferle war schon etwas. Da konnte man an der Kirchweih viel Zuckerwatte dafür bekommen oder den Eintritt zum Schwimmbad bezahlen! Theo und Karl kamen einige Tage hindurch zu uns, bis die Mutter wieder aus dem Krankenhaus entlassen war. Ob es aber öfters ein Fünferle gab als Belohnung für gutes Essen, da müßte man doch die beiden fragen. Sie erinnern sich sicher noch daran. 3. Vater verzichtete auf seinen Ausgleichssport, das Holzhacken, was ja doch nie richtig zu einem endgültigen Ziel führte und bestellte einen arbeitslosen Familienvater für diese Arbeit. Das dauerte einige Tage. Herr Rehn war nicht allzu kräftig, er mußte immer wieder eine Pause machen. Da bekam er noch ein zweites Frühstück (oder war es überhaupt das erste?), zwei Kinder kamen noch zum Mittagessen und für die restliche große Familie hatte der „Hausvater" endlich wieder einmal etwas verdient. Er besaß nämlich sieben Buben! Beim 6. Buben war der Reichspräsident Paul von Hindenburg Pate, wie es damals üblich war. Diese Patenschaft aber erschöpfte sich in einer Urkunde und in einer einzigen größeren Gabe. Die Not einer so großen Familie eines Gelegenheitsarbeiters war wohl kaum berührt worden. 4. Auch die Lehrer wollten die Not lindern, indem sie einen Sponsoren suchten, der in der Pause warme Milch spendete. Die Molkerei lieferte sie täglich an. Schließlich hat, so viel ich weiß, Dr. Hilpert die Schulspeisung übernommen. Natürlich bekamen alle davon etwas. Bei Kindern konnte man ja keinen Unterschied machen, aber es war vor al­lem für die unterernährten Schüler gedacht. 5. Im Frühjahr und Herbst gab es Feldsalatsammlerinnen, die auf den Kleefeldern, die entweder brachlagen oder abgeerntet waren, den guten Rapunzelsalat sammelten und dann in die einzelnen Häuser brachten. Die kleinen Körbchen waren locker gefüllt und kosteten 20 Pfennige. Immer nahmen wir diesen Salat ab. 6. Doch jetzt möchte ich von der großen Aktion reden, die meine Mutter mit Hilfe aller wohlmeinenden Frauen der Gemeinde startete: Die Näh - und Flickstube. Sie fand immer im Winterhalbjahr statt in der Berufsschule. Hier wurden nun Nähmaschinen leihweise angeliefert von Frauen, die glückliche Besitzerinnen einer solchen waren und den fleißigen, armen Frauen zur Verfügung gestellt. Dann mußten alle möglichen Stoffreste erbeten werden, Nähgarn, Druckknöpfe, alles was man brauchen konnte. Mutter gewann eine Näherin, Frau Dobmeier, die kostenlos einsprang, und das Ganze fachmännisch leitete. Wenn irgendetwas nicht stimmte, konnte sie helfen und dann mußte sie vorallem zuschneiden. Sie hat ein großes Werk vollbracht: Zuerst kombinierte sie aus zu klein gewordenen Kleidchen neue Gebilde. Waren die Ärmel durchgescheuert bekam das blaue Kleidchen neue karierte Ärmel mit blauen Bündchen. Oder ein zu kurz gewordenes Kleidchen bekam einen farblich dazu passenden Sattel, der sich noch einmal im Gürtel farblich wiederholte. Die Ärmel kurzerhand abgeschnitten, so entstand ein Sommerkleidchen. Natürlich mußten die Frauen dies alles selbst nähen unter der Anleitung der Näherin. Manchmal wurden auch die Frauen eingespannt zu helfen, die eigentlich nur einen Stoffrest bringen wollten. Bald wimmelte es auch von Kindern, die anprobieren mußten. Am letzten Osterferienwochenende war die große Ausstellung in der Berufsschule. Wie stolz waren die Frauen über die selbstgenähten Kleidchen, und nun konnten sie ihre Kinder getrost wieder in die Schule schicken, mit nicht nur geflickten, sondern auch neuen Kleidchen. Als die Frauenschaft in Windsheim gegründet worden war, wurde diese Sache abgestellt, aber der Herr Bürgermeister Jäckel hat meiner Mutter ein Anerkennungsschreiben überreicht und ihr gedankt, daß sie in Zeiten der höchsten Not hier so vielen geholfen hat. 7. Unvergessen sind auch die schönen Teeabende, die in der Adventszeit durchgeführt und zu denen alle Frauen der Gemeinde eingeladen wurden. Im großen Saal in der Gastwirtschaft „Zum Storchen", der eine kleine Bühne besaß, wurden lange Tischreihen aufgestellt, schön gedeckt mit Plätzchenschalen und Teekannen. Die Tassen brach­ten die Besucherinnen selbst mit. Der „Mädchenkreis", der im Winter jeden Sonntagnachmittag abgehalten wurde, einmal von Frau Else Bauer und einmal von meiner Mutter gestaltet, hatte ein lustiges Theaterstücklein einstudiert und führte es mit ganz geringem Aufwand an Kostümen und Kulissen auf. Einmal gab es auch Schattenspiele; die waren damals beliebt: Eine große Leinwand wurde von der Rückseite angestrahlt. Die Schauspieler erschienen dann als Schattenrisse. Dabei konnte man auch zum Beispiel Elefanten oder Kamele aus Pappe ausschneiden und über die Bühne ziehen. Gemeindearbeit Wieder Bericht aus den Briefen: „Windsheim 20. Jan. 1931 Liebe Geschwister! Der Brief soll diesmal schnell weiterbefördert werden. Am nächsten Sonntag hält mein Kollege, Pfr. Fuchs, seine Abschiedspredigt. Sein Wegzug nach Ansbach bringt mir zunächst erhebliche Mehrarbeit ....den 11.3.31. Soweit kam ich damals. Inzwischen ist das Vorausgesehene eingetreten und ich habe wirklich viel zu tun, besonders weil sehr viele Leute krank sind und auch viele Todesfälle vorkamen. Wir bekamen für den weggezogenen Kollegen keinen Verweser und müssen mindestens 1 /2 Jahr, vielleicht aber auch länger, die Arbeit ohne ihn tun. Nun muß ich aber auch die Vorbereitungen für eine in diesem Jahr bevorstehende Kirchenvisitation beginnen. Dazu habe ich einen stellenlosen Kaufmann als Sekretär angestellt, der nun in der Registratur (Klein - Friedrich nennt es Dreckistratur) aufarbeitet, was da seit Jahrzehnten liegen geblieben ist. Leider kann er nicht die Pfarrbeschreibung fertigen, von deren Nichtvorhandensein ich erst nach meinem Aufzug hier hörte.... 2. April Ihr seht, liebe Geschwister, es will diesmal nicht glücken. Ich bin so in Anspruch genommen, daß ich nie über dem Schreiben bleiben kann. Gesegnete Feiertage!". (Ostern) Wohl war enorm viel Mehrarbeit durch den Wegzug des Kollegen Fuchs vorhanden, aber mit viel Elan stürzte sich Vater hinein, war doch der Bremsklotz des unberechenbaren Widersachers weg. Zur Unterstützung der Predigtarbeit, bezog das Pfarramt für jeden Sonntag kurze Beiträge, auf einem Doppelblatt gedruckt, welche die Schar des gegründeten Gemeindehelferkreises treu in die Häuser verteilte, kostenlos. Dazu hatten wir eine ganz große Gruppe Frauen, die gerne das Blättchen „Mutter und Volk" lasen und es monatlich abonniert hatten. Beim Austragen halfen wir Kinder und unsere Anna immer, spätestens am Samstagnachmittag, treulich mit. Mit der Machtübernahme Hitlers wurden alle Menschen erfaßt und in irgendeiner Gruppe organisiert. Evang. Jugendverbände bekamen keinen nennenswerten Zulauf mehr, denn ganz groß wurde der Bund Deutscher Mädel (BDM) und die Hitlerjugend (HJ) aufgezogen. Die Arbeit des „Deutsch -Evang.- Frauenbundes" wollte die NS -Frauenschaft übernehmen, nur wenige kleine Projekte durften die Evang. Frauen noch behalten. Der von Frau Antonie Nopitsch erst kürzlich gegründete Mütterdienst mit Mütterschulen und Müttererholung sollte sich umbenennen, „denn die Arbeit der Mütterschulen seien allein ihre Aufgaben," so die NS - Frauenschaft. Der Mütterdienst ließ sich aber nicht so leicht einschüchtern. So liefen viele Kurse zweigleisig. Ganz verboten wurden alle kirchlichen Aktivitäten erst ab 1937 (Siehe Staatsjugendtag). Das Blättchen: „Mutter und Volk" Hier muß ich doch noch einmal ausführlicher über den Mütterdienst berichten. (Aus den Erinnerungen von Frau Dr. Nopitsch): Die NS - Frauenschaft hat uns wissen lassen, daß, nachdem der Reichsmütterdienst unseren Namen übernommen habe, wir uns anders nennen oder, noch besser, uns doch eingliedern sollten, in das große Werk. So waren wir offiziell namenlos, aber unter uns nahmen wir das nicht zur Kenntnis. Es kamen allerdings nicht nur grimmige Schreiben von den Parteistellen, sondern auch verlockende Angebote. Eine der führenden Frauen der Partei besuchte mich in unseren bescheidenen Räumen und legte mir eindringlich dar, wieviel großzügiger ich mit ihnen für die Mütter arbeiten könne. Statt Hunderten würden Zehntausenden geholfen. Als ich fragte, ob dabei das Kruzi­fix über meinem Schreibtisch bleiben könne, verneinte sie (dies). Danach kam kein Angebot mehr". Für die Mütter der Gemeinden, lief das Blättchen „Mutter und Volk" über den Mütterdienst von Frau Nopitsch, in die Gemeinden. Nun geschah einmal Folgendes (wieder Frau Nopitsch): In der neuen Nummer von „Mutter und Volk" stand ein Leitartikel des deutschchristlichen Reichsbischofs Ludwig Müller. Eine Rückfrage in Berlin ergab, daß die Frauenhilfe hintergangen worden war; der Artikel war ohne ihr Wissen in das Blatt manövriert worden. Wir konnten die Hefte nicht ausschicken. Aber sollten wir 15 000 Abonnenten aufgeben?" ... So entstand die „Schriftenreihe für die evangelische Frau", die bis in die 50-er Jahre monatlich herauskam, immer ein bestimmtes Thema behandelte, das Frauen interessierte oder besinnliche Stunden bereitete. Alle Abonnenten haben es übernommen. Es gab keine einzige Abbestellung. Und das Blättchen war so wohltuend, ohne politische Phrasen! So wurden, nur in Bayern, 15 000 Hefte „Mutter und Volk" eingestampft und dann abbestellt ! Nun war also der rivalisierende Kollege nach Ansbach versetzt worden und eine Zeitlang aus dem Blickfeld (und dem Arbeitsfeld) verschwunden. Pfarrer Jäger war jung, noch unverheiratet und sprach sehr schnell, was wir im Kindergottesdienst gleich registrierten. Er heiratete 1932 Hildegard Bammessel aus Nürnberg, die sehr gut zu meiner Mutter und zum „Deutsch - evang. Frauenbund" harmonierte. (Nach unserem Wegzug von Windsheim hat sie den Vorsitz übernommen.) So kam nun die Machtergreifung am 30. Jan. 1933, die von den Deutschnationalen mit gemischten Gefühlen betrachtet wurde. Man hielt Hitler für einen Mann, der bald abgewirtschaftet haben würde wie viele seiner Vorgänger. Aber bald sollten wir merken, daß es wirklich eine Macht-er-greifung wurde! Walter ging mit fliegenden Fahnen zu HJ. Endlich hatte er Freunde, die ihn akzeptierten. Und in den ersten Jahren wurde die Hitlerjugend nicht viel anders geführt, als die Wandervögelbünde aus den 20 er Jahren. Die intensive Schulung in der neuen nationalsozialistischen Idee, fand erst später statt. Am Anfang nahm sie noch einen bescheidenen Raum ein. Viel wichtiger war die sportliche Ertüchtigung. An ein Ereignis erinnere ich mich noch, als bei einem Sportfest ein Kletterstamm, in meinen Augen unheimlich hoch, aufgerichtet wurde. Oben hingen als Siegespreise sehr begehrte Artikel, wie z. B. ein Hosenträger für die Lederhose, die jeder Junge, der etwas auf sich hielt, besaß oder eine Taschenlampe. Ich glaube sogar, es gab auch einen Kompaß. Es war bestimmt nicht einfach den ganzen Stamm hoch zu klettern, aber Walter schaffte es im Nu. Der Hosenträger war sein Stolz, brachte er ihn nach Hause und hing ihn zuerst einmal an einen Nagel über sein Bett an die Wand. Am nächsten Tag wurde der Kletterbaum neu bestückt, und Walter bewältigte ihn wieder mit Bravour. Was er sich diesmal als Preis angelte, das habe ich vergessen. Er durfte es nämlich nicht behalten. Die Preisrichter beschlossen ihn vom Wettkampf auszuschließen, denn es sei unfair, gegen die anderen mit solch einer Überlegenheit anzutreten. Er habe das Klettern in Brasilien von den Affen gelernt: Dagegen kann niemand antreten. Es war wirklich so, daß er eine völlig andere Klettermethode anwendete. Die hiesigen Kinder lupften sich mit den Knien irgendwie hoch, aber Walter preßte die Fußsohlen um den glatten Stamm. Ich denke mir, daß diese Methode bei den rauhen Palmenrinden leichter anzuwenden war als hier beim geschälten Stamm, aber es ging eben doch viel schneller. So hatte er wieder eine Enttäuschung zu verarbeiten, aber wir standen zu ihm: „Gewonnen ist gewonnen". Das darf man nicht wegnehmen! Doch dies war nur eine moralische Unterstützung. Am „Heldengedenktag" (heutiger Volkstrauertag) 1933 hielt mein Vater noch eine ganz deutschnationale Rede vor dem Roland, unserem Kriegerdenkmal nach dem Gottesdienst natürlich, in den noch die SA-Männer mit Fahnen in die Kirche gezogen waren. Aber das war zum letzten Mal, daß sie Vater um diese Rede baten. Später waren Kreisleiter oder Ortsgruppenleiter oder SS - Führer usw. selbst in der Lage, dies zu übernehmen, wenn sie auch immer dieselben Phrasen herunterdroschen. Wohl kamen am Anfang Redewendungen vor, die unseren Humor herausforderten, wie z. B. „Wir ziehen alle an einem Strick und dieser Strick heißt Adolf Hitler. „Aber nach zahlreichen Schulungen wurde das Programm der N.S.D.A.P. deutlicher: Judenhetze, Kirchenfeindlichkeit, Chamberlainverhöhnung, Franzosenbeleidigungen. So wurde allmählich das Volk umerzogen. Wenn dann die Appelle immer sonntags zur Zeit des Gottesdienstes stattfanden, so konnte Vater schon manchmal wütend werden: „Sie tun gerade so, als ob es die Kirche gar nicht gäbe"! (Siehe Beigabe: Walter Allgeier, Schluß) Laut schimpfend kam er zu uns ins Wohnzimmer, nach immer neuen Argumenten suchend, wie verderblich das oder jenes fürs deutsche Volk sich auswirken würde. Dann ging er im Studierzimmer auf und ab. Schließlich lehnte er sich an den warmen (oder auch kalten) Kachelofen. Wir zogen uns lieber leise zurück. Hörten wir ihn dann in seiner Schreibtischschublade kramen, und kam er dann in die Küche um Zündhölzer zu suchen, dann hat irgendjemand einmal das Wort geprägt: „Jetzt raucht er wieder, Gott sei Dank"! Die größte Unterstützung im beginnenden Kirchenkampf fand Vater an dem Zusammenschluß aller Pfarrer des Kapitels. Sie alle wollten der Bekennenden Kirche angehören, fest auf der Seite des Landesbischofs Meiser stehen und in den Gemeinden, allen Zeitströmungen zum Trotz, das reine lautere Evangelium predigen. Es war wie ein Rütlischwur. Das ganze Kapitel duzte sich von diesem Tag an. Daß Pfarrer Kießling aus Ergersheim bei diesem Zusammenschluß nicht mitmachte, rührte die anderen weniger. Einen Außenseiter gab es ja immer. Aber die treue Verkündigung in den Landgemeinden war dringend nötig, denn auch hier machte sich bald der Geist des Nationalsozialismus breit. 30. Juni 1934, der sog. Röhmputsch: Ich sehe meinen Vater noch ganz erschrocken am Tisch sitzen und fast ein wenig hilflos sagen: „Die Revolution frißt ihre Kinder!" Aber als er uns dieses rätselhafte Wort erklären sollte, merkte er, daß es hier ja doch ganz anders war als in der französischen Revolution, Hitler war ja ganz legal als Reichskanzler gewählt worden. Dies hier, die Beseitigung ehemaliger Anhänger wie Röhm und Strasser, 1930 aus fadenscheinigen Gründen, war so offensichtlicher Machtmißbrauch, daß von nun an niemand mehr sicher sein konnte, ob er nicht der Nächste sein würde, der im KZ, oder auf der Todesliste landete. Das war die erste tödliche Auswirkung des Ermächtigungsgesetzes, © vom März 1933. Solch eine Macht hatte noch nie ein Mensch im Deutschen Reich, weder ein Kaiser noch ein König. Hier war die Grenze zur Gesetzlosigkeit überschritten worden. Kaum nach der Sommerpause 1934 fragte mich eines Morgens „Papa Duschel" (Spitzname des Französischlehrers): „Was ist denn mit eurem Weihbischof in München Ios?" Ich hatte keine Ahnung. Daheim wurde mir der „Fränkische Kurier" gezeigt mit der großen Überschrift auf dem Titelblatt: „Landesbischof D. Hans Meiser im Hausarrest". Was war geschehen? Durch eine Überrumpelung meinte man die Kirche mundtot und endlich dem Willen des Führers fügsam zu machen, d.h. eine Deutsche Einheitskirche zu schaffen. Bei der katholischen Kirche ging's wohl nicht, die war viel mehr international, aber mit den Protestanten meinte er, schon fertig zu werden. Hitler hatte einen Pfarrer, Ludwig Müller, als Reichsbischof ausersehen, aber die einzelnen Landeskirchen, besonders in Süddeutschland, Bayern und Württemberg dachten nicht daran, sich diesem unterzuordnen. So begann der Kirchenkampf: Anstatt eine Einigung unter einem Bischof zu gewinnen, spalteten sich die Gemeinden in „Deutsche Christen" und in die „Bekennende Kirche". „Der Bischof wankte aber er fiel nicht!" Auszüge aus Walter Allgeiers Ausführungen im Evang. Kirchenfunk vom 9. Juni 1996. .... Was zum Aufstieg Adolf Hitlers führte, ist bekannt: Eine tiefe wirtschaftliche und moralische Depression nach der Kapitulation von 1918; in der Folge die labilen politischen Verhältnisse der Weimarer Republik; der Ruf nach einer Persönlichkeit, die Ordnung im Innern schafft und nach außen Respekt verbreiten soll. Hitler nutzte geschickt die Stimmung und brandmarkte den „gottlosen Marxismus" als den erklärten Gegner des deutschen Volkes. Die NSDAP hatte im Artikel 24 ihres Parteiprogrammes sich dagegen zu einem „positiven Christentum" bekannt. Innerhalb der Evang. Kirche regte sich die Sehnsucht nach einem engeren Verhältnis zum Staat, was während der Weimarer Zeit unmöglich schien, das zeichnete sich im Staat des Dritten Reiches in Umrissen ab.... Die Arbeit an der Seele unseres Volkes, das wurde nun zum gemeinsamen Stichwort von Kirche und Staat. Doch beide Seiten verstanden etwas anderes darunter. Die Völkischen wollten das Christentum verdeutschen und die Kirchenleute hingegen das Deutschtum verchristlichen. Hitler war entschlossen, diese Aufbruchstimmung zu nutzen. Für die evangelische Kirche, deren Art ihm weitgehend fremd war, wollte er die Verantwortung Männern seines Vertrauens übergeben. Etwas voreilig machte er den Königsberger Wehrkreispfarrer Ludwig Müller zu seinem Kontaktmann. Der setzte sich an die Spitze der sog. Deutschen Christen, [Deutsche Christen, abgekürzt D.C., zusammenfassende Bezeichnung evangelisch - kirchlicher Bewegungen im Deutschen Reich mit teils innerkirchlicher, teils überkonfessioneller (nationalkirchlicher) Zielsetzung und mit theologisch sehr mannigfaltigen Gedanken. Ihr volksmissionarisches Ziel war eine auf Glauben (als Vertrauen, nicht als theologische Lehre) und volksverbundenen Kultus beruhende Reichsbewegung. Der Versuch einer Erneuerung der Kirche von innen heraus verband sich mit dem Bestreben, Kirche und nationalsozialistisch geführtes Volkstum ein einer christlichen Nationalkirche zusammenzuführen. (Brockhaus Enzigklopädie 1968, Band 9, Seite 468.)] die ein Christentum im Sinne des NS - Parteiprogramms verwirklichen wollten. Der greise Kirchenpräsident Friedrich Veit verfolgte das nicht ohne Sorge. Er warnte ausdrücklich vor Bestrebungen das Christentum aus seiner biblischen Verankerung zu reißen und für die Zeit zurecht zu trimmen. Dann brach das Jahr 1933 an. Hitler setzte seine „Ermächtigung zum Schutz von Volk und Staat" durch. ... Kirchenpräsident Veit forderte die Geistlichen auf, daß der Dienst eines Pfarrers, der Kirche und niemals einer Partei gelten kann. Aber schon stellte der NS - Pfarrerbund Bayern fest, daß der alte Mann an der Spitze der Kirche nicht mehr tragbar sei. Veit trat zurück. Eine außerordentliche Synode wählte am 4. Mai 1933 den bisherigen Oberkirchenrat Hans Meiser zum neuen Kirchenpräsidenten mit dem Titel Landesbischof. Außerdem verabschiedete man nach politischem Vorbild ein Gesetz über „Ermächtigung des Landesbischofs zum Erlaß von Kirchengesetzen". Der Bischof konnte jetzt Kirchengesetze praktisch unbeschränkt erlassen. Damit hatte man ein autoritäres Kirchenregiment errichtet. Die bayer. Landeskirche hatte gewissermaßen im Handstreich ein Führerprinzip eingeführt, das biblisch nicht zu begründen war. Daß sich diese gestraffte Leitung der Kirche in den kommenden Zeiten auch als ein Glücksumstand erwies, ist nur der persönlichen Integrität von Hans Meiser zu verdanken, der ebensogut seine Kirche in den Abgrund hätte steuern können. Am 10. Juni 1933 wurde Meiser in der Nürnberger Lorenzkirche in sein Amt eingeführt. Am selben Tag noch ging von dem Stabsleiter der NSDAP, Dr. Robert Ley, folgendes Schreiben an die Gauleiter ab. Zitat Anord. 28 / 33. „Kreiswehrpfarrer Müller, der Beauftragte des Führers für die evang. Kirche, teilt mir mit, daß der Führer wünscht, daß die Deutschen Christen die Reaktion aus ihrer letzten Stellung herausdrängen. Die Deutschen Christen werden den vierwöchigen Kampf aufnehmen. Es standen Kirchenwahlen an ... Sichtlich verjüngt gingen die Kirchenvorstände aus den Wahlen hervor. Ein großer Teil von ihnen gehörte nun den Nationalsozialisten an. Indessen gelang es Meiser noch einmal die Deutschen Christen an die Kandare zu nehmen. Bei der Tagung der neuen Landessynode im September 1933 in München stellte der Bischof die dreifache Bedingung, Zitat: Erstens: es darf nichts geschehen, das dem Bekenntnis unserer Kirche zuwider ist. Die zweite Bedingung, die ich stellen muß, ist die, daß die Glaubensbewegung bei uns als eine innerkirchliche volksmissionarische Bewegung geführt wird. Die dritte Bedingung an die Deutschen Christen in Bayern ist die, daß ich die Unterstellung der Bewegung unter meiner Führung verlangen muß .... Inzwischen wurde man auch in Bayern von der Großwetterlage des Reiches eingeholt. Am 13. Nov. 1933 fand in Berlin die berüchtigte Sportpalastkundgebung der Deutschen Christen statt. Der Berliner Gauobmann Dr. Krause kündigte zugleich eine große Entrümpelungsaktion an, Zitat: „Der erste Schritt dazu ist die Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst, Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral, von seinen Viehhändler- und Zuhältergeschichten. Wenn wir Nationalsozialisten uns schämen eine Krawatte von Juden zu kaufen, so werden wir uns erst recht schämen, irgend etwas, was zu unserer Seele spricht, von Juden anzunehmen." Alle Kirchenchristen waren empört: Innenminister Hossenfelder verkannte völlig die Situation. Ihn erwartete in München ein Rausschmiß erster Klasse. Das einzige, was Sie tun können, rief Meiser: Fahren Sie so schnell wie möglich nach Berlin und schmei­ßen Sie die Leute, die das Christliche im Namen der DC „verraten und zum Spott gemacht haben, rücksichtslos heraus aus Ihrer Bewegung". Doch nicht lange, so wurde „vom Reich her" erneut auch die bayerische Landeskirche erschüttert und zwar durch einen beispiellosen Wortbruch. Reichsbischof Müller hatte, gegen alle Absprachen, die evang. Jugend mit ihren 700.000 Mitgliedern als Untergliederung in die Hitlerjugend überführt. Die Wandparolen wie: „Christus krepiert, - HJ marschiert", ließen Schlimmstes befürchten. Die Empörung über diesen Verrat wollte sich Müller vom Leib halten, er unterband jegliche Diskussion (später: Rede in Windsheim) darüber. Meiser protestierte aber mit anderen gegen diesen „Maulkorberlaß" (vgl. S XX). Die nicht deutschchristlichen Kirchenführer wurden dann am 25. Januar 1934 von Hitler persönlich empfangen. Eigentlich wollten sie auf die Abberufung Müllers beim Führer dringen, gerieten aber dann in die Defensive, weil Göring ein abgefangenes Telefonat von Martin Niemöller zum Anlaß nahm, von „politischer Verschwörung" zu reden, um die Kirchenführer regelrecht mundtot zu machen. Vor allem Hitlers Drohung, der Kirche den Geldhahn zuzudrehen, verfehlte ihre Wirkung nicht. Reichsbischof Müller nutzte die Gunst der Stunde und überrumpelte die Kirchenführer mit einer vorbereiteten Erklärung, die folgenden Wortlaut hatte, Zitat: Unter dem Eindruck der großen Stunde, in dem die Kirchenführer der DEK mit dem Herrn Reichskanzler versammelt waren, bekräftigten sie einmütig ihre unbedingte Treue zum Dritten Reich und zu ihrem Führer Sie verurteilen aufs Schärfste alle Machenschaften der Kritik an Staat, Volk und Bewegung, die geeignet sind, das Dritte Reich zu gefährden. Die versammelten Kirchenführer stellen sich geschlossen hinter den Reichsbischof und sind gewillt, seine Maßnahmen und Verordnungen in dem von ihm gewünschtem Sinn durchzuführen, die kirchenpolitische Opposition gegen sie zu verhindern ... und die Autorität des Reichsbischofs zu festigen. Diese Erklärung wurde den Kirchenführern vorgelesen, ihr Nichtwidersprechen als Zustimmung gewertet und das Papier sofort der Presse übergeben. Meiser und der Württembergische Bischof Wurm, distanzierten sich noch am selben Tag von der Erklärung, konnten aber nicht verhindern, daß ihr Verhalten, besonders von den Pfarrern des „Notbundes" unter Martin Niemöller als Verrat gewertet wurde. Meiser war über seine Fehlleistung so betroffen, daß er seinen Rücktritt anbot, der jedoch nicht angenommen wurde. Schon bald versuchte Meiser diese Scharte auszuwetzen. Zusammen mit Wurm hatte er um ein vertrauliches Gespräch mit Hitler nachgesucht. Dabei wollte er darlegen, warum er mit Müller nicht länger zusammenarbeiten könne. Hitler jedoch brauste auf und verkündete, das Christentum werde aus Deutschland genau so verschwinden wie aus Rußland. Das deutsche Volk habe viele hundert Jahre ohne das Christentum existiert, werde auch weiterleben, wenn das Christentum verschwunden sei. Meiser notiert: Allen Vorstellungen und Einwendungen Hitlers gegenüber, blieben wir fest. Als er für keine unserer Vorstellungen Verständnis zeigte, sagte ich schließlich: Wenn die Dinge so liegen, bleibt uns nichts anderes übrig, als unseres Führers allergetreueste Opposition zu werden. Darauf brauste Hitler auf, bekam einen fürchterlichen Tobsuchtsanfall, lief hin und her, und schrie uns an: Nicht meine allergetreuste Opposition sind Sie, sondern Verräter des Volkes, Feinde des Vaterlandes und Deutschlands Zerstörer!" Jetzt war auch der Friede zu Hause endgültig dahin. Ein sog. Verfassungstag in Erfurt hatte in Abwesenheit Meisers die Eingliederung Bayerns in die Deutsche evang. Kirche beschlossen. In Bayern betrieb diese Geschäfte eine Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Synodaler unter Vorsitz des Bürgermeisters von Gunzenhausen, Dr. Münch. In einem zwölfseitigen Brief an Meiser erklärte Münch, die Eingliederung der Landeskirche in die Reichskirche zum obersten Ziel. Wenn Meiser sich dem widersetzen wolle, solle er zurücktreten. Vorerst jedoch sprach die am 23. August zusammengetretene Synode Meiser erneut das Vertrauen aus und bestätigte den Bischof in seiner Ablehnung einer Eingliederung in die Reichskirche. Schon einen Monat zuvor hatte Meiser den leitenden Juristen im Kirchenregiment zu Berlin, Rechtswalter Jäger, wissen lassen: Ich muß es ablehnen, mit der derzeitigen Reichskirchenregierung in Verhandlungen über eine neue Form des Zusammenschlusses einzutreten, weil ich mich einem Regiment widersetze, das eine geeinte deutsche evang. Kirche aus Rechtsbruch und Gewalttat, nicht aber aus dem Wesen der Kirche aufbauen will. Diese Entlarvung mußte Jäger ganz persönlich treffen, hatte er sich doch vorgenommen, was Hitler auf politischem Gebiet gelungen war, auch auf dem Bereich der VE. Kirche nachzuvollziehen, d.h.. eine Gleichschaltung des Protestantismus. Und dazu war ihm jedes Mittel recht. Die Antwort war eine Hetzkampagne gegen Meiser. Nürnberg blieb der Hauptkernpunkt der Auseinandersetzung. Dabei ging es teilweise grotesk zu. Ein Augenzeuge, der spätere Oberkirchenrat Hugo Maser, berichtet: „Gauleiter Karl Holz hatte zu einer Massenkundgebung gegen Meiser aufgerufen. Die Gemeinde wurde kurzfristig auf den Hauptmarkt gerufen. Als die Polizei eingreifen wollte, öffnete man die Kirchen, und sofort waren St. Lorenz und St. Sebald und St Egidien bis auf den letzten Platz gefüllt. Dort sprach der eilends herbeigerufene Landesbischof (6). Nach dem Gottesdienst kam es dann zu einer grotesken Situation. Als die Polizei Gewalt anzuwenden begann, um den Platz schnell zu räumen, stimmte jemand das Deutschlandlied an. Nach den Bestimmungen mußten während dieses Gesangs die Polizei stumm stehen und salutieren. Die Angegriffenen konnten sich während dieser Zeit unbehelligt zurückziehen." Hetze auch in der „Frankfurter Zeitung": Der kirchenfeindliche Gauleiter und Innenminister Wagner schreibt dort: Was mich am meisten drückt ist die Tatsache, daß gerade aus den Reihen der Kirche die größte Kritik am NS - Staat geübt wird. Es kann blühen, daß ich noch einmal dreinschlage, daß es endgültig genügt... Wer seine Pflicht am Volk nicht erfüllen will, hat das Recht verloren, in Deutschland zu leben. Am 8. Oktober trafen Jäger, Wagner und der Hauptmann Pfeffer von Salomon, Sonderbeauftragter der Abteilung des kulturellen Friedens in Berlin, in München zusammen und beschlossen, Meiser unter Arrest zu stellen. Am 11. Okt. gegen 8 Uhr 15 empfingen die Dienststellen der politischen Polizei folgenden Funkspruch: Bis einschließlich Sonntag 14.10.1934 ist jegliche Verbreitung evang. Kirchenzeitungen, Zeitschriften sowie Flugblätter und Flugschriften, ohne Rücksicht auf deren Inhalt, aus Sicherheitspolizeilichen Gründen, zu unterbinden; bereits hergestellte Druckschriften usw. sind sicherzustellen. Vorstehende Anordnung ist nicht anzuwenden auf Veröffentlichungen der Reichskirchenleitung. " So sollte die Landeskirche mundtot gemacht werden. Dann schlug Jäger zu. Mittags 12 Uhr betrat er in Begleitung von sechs Gestapomännern den Landeskirchenrat, ließ die Oberkirchenräte zusammenrufen und die Türen besetzen. Die Oberkirchenräte werden von ihm mit folgenden Worten beurlaubt: "Dem Zustand der Meuterei muß ein Ende gemacht werden." Um 15.00 Uhr, nachdem er sie drei Stunden lang hatte einsperren lassen, nahm sich Jäger die Beamten und Angestellten der Kirchenbehörde vor, denen er die Absetzung Meisers sowie der Oberkirchenräte, mitteilte. Außerdem eröffnete er ihnen, daß die Landeskirche nun in zwei Bistümer aufgeteilt worden sei, mit zwei „Reichskirchlichen Kommissaren" an der Spitze: Bischof Gollwitzer, bisher Pfarrer in Mühldorf, in München und Bischof Sommerer in Nürnberg, bisher Anstaltsgeistlicher in Rummelsberg. Die Versammelten ließen sich bis auf fünf auf die neue Kirchenleitung verpflichten. Bischof Meiser befand sich zu diesem Zeitpunkt in Rothenburg ob der Tauber. Wie er nach München gelangte, schildert der ehemalige Oberkirchenrat Hugo Maser nach Augenzeugenbericht des Pfarrers Putz: In der Nacht vom 10. zum 11. Oktober stand jemand um drei Uhr morgens plötzlich am Fußende meines Bettes und sagte: Ich bin der Stadtkirchner Winter von St. Markus und ich soll Ihnen ausrichten: Es geht los! Welche Stelle um Jäger undicht gewesen war, ist nicht bekannt. Putz fuhr nach Augsburg. Dort gelang es ihm, Meiser wissen zu lassen, er möge in Augsburg aus dem Zug steigen. Im Haus des Augsburger Baurats Gesswein wurde beschlossen, angesichts des inzwischen erfolgten Besetzung des Landeskirchenrats, Meiser solle abends in St. Matthäus in München predigen und dann erst in seine Wohnung im Landeskirchenrat gehen. Von einer Augsburger Großspinnerei wurde ein Auto ausgeborgt, das Meiser unerkannt nach München brachte. Er kam unbehelligt auf die Matthäuskanzel. Die Kirche konnte nur zu einem kleinen Teil die kurzfristig benachrichtigte Gemeinde fassen. Anschließend an den Gottesdienst geleitete eine große Menge den Bischof zu seiner Wohnung im Gebäude des Landeskirchenrates. Meiser gab die Erklärung ab, er werde der Gewalt nicht weichen und sein Amt nicht niederlegen. Die Menge fordete ihn mehrfach - in Sprechchören - auf: „Festbleiben, Meiser!!" Meiser erhielt Hausarrest. Tags darauf erschien Jäger und verlangte, Meiser solle seine Absetzungsurkunde unterschreiben. Meiser verweigerte auch dies. Die Anordnungen der beiden Kirchenkommissare Gollwitzer und Sommerer wurde trotz massiver Drohungen im Land, kaum befolgt. Überall fanden „Bekenntnisgottesdienste" statt, der größte in Nürnberg, wo die Polizei zehntausend Menschen auseinander treiben mußte. Den Pfarrern wurde empfohlen, jeden Verkehr mit den Kommissaren einzustellen, die Kollekten unmittelbar an die dafür vorgesehenen Gemeinden oder Anstalten abzuführen. Der Pfarrerverein forderte den Rücktritt der Kommissare. 30 Hochschullehrer protestierten gegen die Verhaftung Meisers. Den meisten Eindruck aber hinterließ die Delegation Fränkischer Bauern, die bis zu Epp, zum Ministerpräsidenten Sievert und zum Innenminister Wagner vordrang. Karl Dörfler, damals Pfarrer in Sommernsdorf bei Ansbach, erzählt: Es wurde vereinbart, daß eine Abordnung der evang. Bauernschaft aus Mittelfranken nach München fahren sollte um dort gegen die Gefangennahme des Landesbischofs zu protestieren. Achtzehn Bauern und zwei Pfarrer gingen diesen Weg nach München. ... Erstes Telephongespräch mit dem Reichsstatthalter von Epp: Hier ist die Vertretung tausender evang. Bauern aus Mittelfranken. Wir möchten Ihnen unsere Sorge vortragen. Wir bekommen die Antwort: Kommen Sie ....Vor Epp: Der eine Satz unserer Bauern bleibt mir unvergeßlich: Zwölf Generationen schon sitzen wir auf unserem Hof und noch niemals sind wir Lumpen an unserem Glauben geworden. Wenn Ihr uns unsere Kirche nehmt, dann ist uns unsere Scholle, unsere Heimat und unser Vaterland nichts mehr wert. Überraschend erklärte Epp uns, er wisse gar nicht, daß unser Landesbischof verhaftet sei; er werde sich sofort erkundigen und verspricht zu tun was er kann. Anders lief es im Kultusministerium ab: Staatssekretär K. ist enttäuscht über das Verhalten der Bauern. „Er brüllt uns an. Wir Bauern rufen zurück: Wir haben Euch gewählt und jetzt laßt Ihr uns im Stich! Jetzt zerschlagt Ihr unsere Kirche und sperrt unseren Bischof ein. Wir wollen keinen Frankenbischof, ...“ Schließlich drang eine Delegation der fränkischen Bauern bis in die Berliner Reichskanzlei vor, um dort ihren Protest vorzutragen. In regelmäßigen Abständen schreibt jetzt der Bayerische Ministerpräsident an den Reichsinnenminister, er würde mit Bergen von Telegrammen mit Bitten aller Art bestürmt, die einen „furor protestanticus" befürchten ließen. Die ganze Angelegenheit, so befürchtet Sievert, schlage nunmehr aufs Politische durch. Die Bauern würden reihenweise aus der Partei austreten. Von den fränkischen Bauern meint er, sie machten ganz den Eindruck religiöser Fanatiker, die fest entschlossen sind, es bis zum äußersten kommen zu lassen. Sie bekundeten nur drei Begriffe zu kennen; Führer, protestantischer Glaube und Grund und Boden, und sie ließen sich von diesen dreien keines nehmen! Die NS - Gewaltigen hatten die Reaktion auf ihren Gleichschaltungsversuch unterschätzt. Die Vielzahl spontaner Proteste im Land zeigte, daß die bayerischen Protestanten in ganz anderer Weise mit ihrer Kirche verbunden waren, als man dies aus preußischer Sicht gewohnt war. Diese Erregung, wie auch außenpolitische Gründe, führten dann zur Haftentlassung des Bischofs innerhalb weniger Tage. (14. -26. 10.) Hitler beschloß nun in seiner Kirchenpolitik das Ruder herumzuwerfen und zunächst den dubiosen Hauptmann Pfeffer von Salomon und schließlich auch den Reichswalter Jäger zurückzuziehen. Das war am 26. Oktober. Meiser erhielt am selben Abend seine Freiheit zurück. Mehr noch, Meiser und Wurm (Württemberg) wurden am 30. Oktober von Hitler empfangen, der ihnen für die Zukunft kirchenpolitische Neutralität zusagte. Am 1. Nov. nahm Meiser seine Amtsgeschäfte wieder auf. Das Scheitern einer Gleichschaltung der Bayerischen Landeskirche führte zur einzigen innenpolitischen Niederlage, die das Dritte Reich während seiner zwölf Jahre hinnehmen mußte. Auch Hitler blieb davon nicht unbeeindruckt. Nachdem die Gleichschaltung der Kirche gescheitert war, verfolgte er jetzt ab November 1934 eine Politik der konsequenten Ausschaltung der Kirchen. (Walter Allgaier) Nach den Wahlen 1933 setzte sich der Windsheimer Kirchenvorstand wie folgt zusammen: 4 Deutsche Christen (Verjüngung) 6 Bekennende Kirche. Dann im Jahr 1937 fanden sich keine Deutschen Christen mehr im Kirchenvorstand. Vater hatte also immer eine Mehrheit. Ludwig Müller war also in Bayern kein Reichsbischof, obwohl er diesen Titel immer führte, sondern nur der Bischof der „Deutschen Christen", die sich nun anschickten auch in Windsheim eine Ortsgruppe zu gründen. Landesbischof Meiser war nun der geliebte, allseits verehrte Widerstandskämpfer, mit dem die Partei nicht fertig geworden ist. Er wurde sehr populär und reiste ab 1935 in die verschiedensten Dekanate Frankens, aber natürlich nicht nach Windsheim. 1936 wurde Herr Senior Spatze pensioniert und zog nach Burgbernheim. Er blieb also im gewohnten Kapitel. Für ihn kam ein junger Pfarrer Schuster auf die dritte Pfarrstelle. Er war ein sogenannter Spätberufener: Er übte schon einen anderen Beruf aus. Dann sattelte er um und studierte noch Theologie. Mit Frau und zwei Kindern übersiedelte er zunächst nach Amerika um sich dort leichter als bei uns, im arbeitslosen Deutschland, das Geld zum Studium zu erarbeiten und zwar als Kellner. Dann kam er zum Studium wieder heim nach Deutschland und studierte in Erlangen Theologie in der kürzest möglichen Zeit. Wir bekamen ihn als Religionslehrer und wir hatten ihn gern. Er lehrte nicht nur, sondern er stellte die christliche Wahrheit in unser Leben. Wir konnten mit ihm reden, ihn fragen und lernten auch mit viel mehr Begeisterung die Lehre der Kirche. Freilich waren wir selber auch reifer geworden und erlebten mit vollem Verständnis eine Zeit, in der das Christentum nicht mehr viel galt. Manchmal wurde ich auch von unseren Professoren blöd angesprochen und konnte nichts darauf antworten. In diesem Fall ging ich aber immer zu Vater nach Hause, der mir in langen Gesprächen erklärte, warum wir unbedingt das Alte Testament noch brauchen, warum gerade der „Jude" Jesus unser Heiland ist, warum überhaupt das Heil „von den Juden kommt". Diese Gespräche möchte ich nie missen. Sie haben mir viel Geborgenheit und Überzeugungskraft gegeben, auch wenn die Anfeindungen gegen „die Christen" immer dreister ans Tageslicht kamen. Vater vermutete, daß bei diesem Schnellstudium Schusters das Graecum bestimmt zu kurz gekommen sei und regte an, daß Pfarrer Schuster doch mit ihm zusammen, die Texte des Neuen Testaments im Urtext lesen solle. Als Pfr. Jäger davon erfuhr, nahm er auch an dem „außerplanmäßigen" Unterricht im Dekanat teil, der früh vor der Schule, von 7 Uhr bis 8 Uhr, stattfand. Sicher unterblieb es wieder in der kalten Zeit, aber Vater tat immer gern etwas „vor dem Frühstück". Sondergottesdienste der „Deutschen Christen" Brief: Windsheim 29. Nov. 1935. In den kirchlichen Angelegenheiten sieht man noch nicht klarer als vor einigen Wochen. Man muß es sich abgewöhnen, sich über irgendeine günstig scheinende Wendung zu freuen. Es kommt zu leicht eine schwere Enttäuschung nach. Und die „Bekennende Kirche" hat wohl auch heute unter dem Regiment des Reichskirchenausschusses noch keine guten Aussichten. In Windsheim hielten am letzten Sonntag die „Deutschen Christen" ihren ersten Sondergottesdienst. So wollen sie der kirchlichen Einigung vorarbeiten. Pfarrer Fuchs von Ansbach brachte sogar seine ganze Familie mit. Als er kam, sangen seine Anhänger: „Wie soll ich dich empfangen"? - Etwas bitter mutet der Humor an, wenn er diese ganze Ungeheuerlichkeit seinen Eltern schreibt, daß der frühere Kollege, der natürlich in Windsheim noch Anhänger hatte, wie „ein Fuchs in das Schafgehege" einbrach und die menschliche Verbundenheit für seine Irrlehre ausnützte. (Die Deutschen Christen hatten nicht nur die Einigung unter dem Favoriten Adolf Hitlers im Sinn, sie lehnten auch das Alte Testament im Ganzen ab und sahen Jesus nur als vorbildlichen Menschen und Religionsstifter an, nicht als den Erlöser der Menschheit Bekenntnisgottesdienste Nach der Freilassung des Landesbischofs D. Meiser im Nov. 1934 (Siehe das Kapitel „Der Bischof wankte, aber er fiel nicht") hatte dieser offensichtlich den großen Wunsch, sich bei der mittelfränkischen Landbevölkerung persönlich zu bedanken, daß sie sich so sehr für ihren Bischof eingesetzt hatten. Schon im Sommer 1935, dem Konfirmationsjahr meiner Schwester, Marie, fand in Neustadt/Aisch ein Bekenntnisgottesdienst statt, wo D. Meiser persönlich predigte. Ein Pfarrerssohn von Neustadt fuhr in die einzelnen Dörfer der Umgebung um die Einladungszettel unter Umgehung der Postbeförderung, auszuteilen. Er hatte dazu seine HJ Uniform an, kam nach Windsheim, Ipsheim, Dottenheim und stellte die gebündelten Blätter ab. Im Gottesdienst am Sonntag vorher teilte man diese Zettel aus. So wurde das ein überwältigender Gottesdienst in Neustadt, zu dem Vater und Marie mit dem Fahrrad (?) oder der Bahn fahren konnten. Viele wußten inzwischen, daß es jetzt hieß festzustehen, wenn die neuen Machthaber an den Glauben „greifen" wollen! In Windsheim hatten wir etwa 1937 oder 38 in der Spitalkirche auch Bekenntnisgottesdienste, gehalten von sog. Volksmissionaren. Von einem will ich ausführlich erzählen, weil dieser zu den Schlüsselerlebnissen in meinem Leben gehört. Er wurde durch Herrn Pfarrer Helmuth Kern in der Spitalkirche in Windsheim abgehalten. Bei diesem „Sondergottesdienst" war die Kirche bestimmt viel voller als bei den seit 1935 üblichen „Sondergottesdiensten" der Deutschen Christen dort. Meine Mutter und ich fanden absolut keinen Platz mehr, von unten bis zur zweiten Empore. So mußten wir uns auf die oberste Stufe der Treppe setzen, bis jemand aufstand und der Frau Dekan einen Platz anbot. Aus diesem Gottesdienst weiß ich noch viel. Die Predigt hatte den Text: „Mein Volk tut eine zwiefache Sünde: Mich, die lebendige Quelle verlassen sie und machen sich hie und da ausgehauene Brunnen, die doch löcherig sind und (in der Not) kein Wasser geben „Jeremia 2. 13". Pfarrer Kern führte es deutlich aus, was für eine „hirnverbrannte Dummheit" es sei, wenn man Zisternenwasser trinkt und doch daneben eine frische lebendige Quelle hat ! Aber so benehmen sich die Menschen, wenn sie aus irgendwelchen Ideologien sich nähren und speisen, an­statt mit Freude dem Wort nachleben: „Bei Dir ist die Quelle des Lebens und in Deinem Lichte sehen wir das Licht" Psalm 36, 10. Oh, ich wußte es genau, was Pfarrer Kern meinte, nämlich die Ideologie von Alfred Rosenberg: „Der Mythos des 20. Jahrhunderts" oder die verrückten Ideen des „Tannenberg"-Bundes der Mathilde Ludendorff oder all die, oft aus dem Zusammenhang gerissenen Ideen von Nietzsche, halbverdaute Philosophie, oder den Germanenkult der Herrenrasse. Schon ein „unmündiges Kind" verstand diese Gegenüberstellung der Wahrheit der Bibel und der Irrtümer anderer Ideologien. Zum Glück ist „Quelle" im Zusammenhang mit Schriften auch heute noch ein gebräuchlicher Ausdruck. Die Jahreslosung des Jahres 2000: Gott spricht: „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen" meinte genau das Gleiche wie Jesu Wort: „Suchet in der Schrift, denn ihr meinet (zu Recht) ihr habet das ewige Leben darinnen, und sie ist's, die von mir zeuget". Kurz gesagt: Dieses Wort aus der Heiligen Schrift trifft uns heute genau so wie damals im Dritten Reich und wie zu der Zeit des Jeremias 500 Jahre vor Christus. Wir verstehen es gut und würden heute kurz und bündig sagen: „Treibt Quellenforschung, dann werdet ihr zum Leben gelangen" ! Die Losungen, die in vielen Häusern unseres Volkes noch in den täglichen Gebrauch genommen werden, sind wohl täglich ein tüchtiger Schluck lebendigen Wassers, wenn wir tagsüber davon zehren, aber für eine Notzeit, in der man Hilfe direkt sofort braucht wird ein Schluck nicht genügen. Wir müssen uns tief in die Bibel versenken, nicht bei einem Psychologen Hilfe suchen - der kann nur Zisternenwasser geben, sondern direkt von Gott, unserem Vater und dem Vater Jesu Christi, unserm Erlöser, Friede für unsere Seele erflehen. „Unser Herz ist unruhig, bis daß es Ruhe findet in Gott." (Augustinus)--- Erschwerung des Dienstes und Judenverfolgung Brief an Eduard Winter, seinem Patensohn, vom 26.3.1936:.. Vor der Konfirmation habe ich noch viel zu tun. Und die Ariernachweise lassen auch nicht nach (Siehe Anekdoten.) ... Der Wahlkampf ist hier im vollem Gange. Abends spricht der Gauleiter und vor ihm sein Mitarbeiter Fink. Man muß hingehen, daß man nicht als Staatsfeind angepöbelt wird. Wie nach dem 29. März die Dinge weiterlaufen, darauf sind wir gespannt. Augenblicklich halten sich die DC etwas zurück. Zwar war am letzten Sonntag Fuchs wieder hier zu einem „Gottesdienst", aber eine Sonderkonfirmation scheinen sie doch nicht inszenieren zu wollen. (Siehe Sonderkapitel 1938.) Gestört haben sie mit ihren Sondergottesdiensten und den Versammlungen, die sich vollen obrigkeitlichen Schutzes erfreuten, den Konfirmandenunterricht sehr empfindlich. Ich spürte, fast in jeder Stunde das deutlich, daß ein Teil der Kinder zu Hause gegen Kirche und Pfarrer beeinflußt wurden. Der Unterricht fiel mir noch nie so schwer wie heuer." 1936 hat Eduard Winter sein Examen bestanden und kam zu uns nach Windsheim als Lehrvikar. Kurz vorher war sein Vater verstorben und mein Vater wollte ihn nun in die Bewältigung der Amtsgeschäfte, die bald auf ihn zukommen würden, einführen. Er hatte noch Beziehungen zu einem Redakteur aus Fürth, der im Team des „Fränkischen Kuriers" war, der schon bespitzelt und dann bald verboten wurde. Um sich noch eine Zeitlang über Wasser zu halten, veröffentlichte diese Deutschnationale Zeitung nicht alles, was durch die Presse an sie gemeldet wurde. Aber er berichtete heimlich an seine Freunde schon bald von Schandtaten, von denen die Öffentlichkeit nie etwas erfuhr. Wenn nun Eduard, im Innersten empört, diese neuesten Meldungen bei Tisch zur Sprache bringen wollte, schüttelte Vater den Kopf: „devant les enfants! Non, non". Dann verschlug es Eduard immer gleich die Sprache. Vater hätte diese Abwehr aber ruhig auch in Deutsch sagen können. Ich hatte schon zwei Jahre Französisch und konnte dieses Radebrechen leicht übersetzen. Aber ich interessierte mich überhaupt nicht, was Eduard nicht „devant les enfants" sagen durfte und was er dann in Sonderaudienz beim Vater im Studierzimmer Politisches berichtete. Unsere Anna, die damals alles mitgekriegt hat in unserer Familie, berichtete mir jetzt, daß, während wir Kinder in der Schule waren, Vater einmal einen Zornesausbruch hatte, weil er von Judenabtransport und Judenvernichtung gehört hatte, entweder durch Eduard oder durch andere leise ausgesprochenen Vermutungen. Das war schon 1937. Vater konnte damals fast nichts mehr essen. Der Arzt diagnostizierte: „Nervöser Magen, Gastritis." Da hat man sich gefragt, wo diese Juden wohl hinkämen und wir vermuteten, daß sie nach Dachau ins dortige KZ und Arbeitslager eingeliefert würden. Vater trug sich seitdem mit dem Gedanken, sich weg zu melden, noch einmal wo anders neu anzufangen und auch die große Verantwortung und Belastung des Dekanats abzulegen. 1937 und 1938 waren die schwersten Dienstjahre (7). Zwei Schreiben von Herrn Oberkirchenrat Georg Kern liegen vor. Im ersten vom 11. Nov. 1936 geht dieser auf eine mündliche Bemerkung Vaters ein: Nicht als ob ich Deine Lust zum Wandern unterstützen wollte, aber um Dein ohnedies wanderlustiges Herz auf eine Möglichkeit hinzuweisen, die mir zugleich eine Sorge abnehmen und Dich meinem Kirchenkreis erhalten würde, möchte ich Dich auf Neuendettelsau aufmerksam machen. Du wärst den Kollegen in Neuendettelsau ein erwünschter Nachfolger von Rabus. ... Auf diese Aufforderung hin wandte Vater sich an den zuständigen Patron, die Herren von Eyb. Nach einigen Monaten wird alles wieder rückgängig gemacht. Am 30.3.1937 wird das „Ermächtigungsgesetz" für Hitler neu für weitere vier Jahre bestätigt. So bekam Vater einen Brief vom 1. April 1937 von Oberkirchenrat Georg Kern: Nach einer Rücksprache mit dem Herrn Patron möchte ich Dir mitteilen, daß Du Deine Präsentation für Neuendettelsau als zurückgezogen betrachten darfst. Die kirchliche Lage wird sich mit der Zeit doch nicht einfacher, sondern eher verwickelter gestalten, so ist es nach wie vor wünschens­wert, daß Du ausharrst, damit die Verhältnisse in Windsheim nicht durch einen Wegzug Deinerseits noch schwieriger werden. Andrerseits aber kann die Wiederbesetzung Neuendettelsaus auch nicht noch länger hinausgeschoben werden. So blieb nichts anderes übrig, als eine andere Präsentation zu erstreben. Deine eigene Bereitschaft, in Windsheim auszuharren, erleichterte dem Evang. Luth. Landeskirchenrat den Entschluß zu solchem Vorschlag anden Herrn Patron. Ich bin durch den Evang. Luth. Landeskirchenrat beauftragt, Dir für solche Dienst- und Opferbereitschaft, die Dich nicht auf Deine eigenen Wünsche sehen läßt, besondere Anerkennung und Dank auszusprechen" Nur ein wenig solle Vater noch ausharren, bis man die neue Richtung besser überblicken könne. Von Neuendettelsau aus hätte ich und Friedrich Bahnschüler nach Ansbach werden müssen. Meine Schwester Marie war schon seit 1936 in Nürnberg in die Löheschule gekommen und in das dortige angegliederte Internat. Wahrscheinlich wäre sie dort nicht herausgerissen worden, weil sie sich dort schon so schön eingewöhnt hatte. Ihre „Lebensfreundinnen" gewann sie aus diesem Kreis der Schülerinnen der Frauenoberschule und des Internats. Bis heute ist sie noch mit ihnen verbunden. Aber alles mußte wieder abgesagt werden. Um den Dekan von Windsheim ein wenig zu trösten und ihm mitzuteilen: Wir verstehen dich, wir fühlen mit dir, hat der Landeskirchenrat in München ihm den Titel „Kirchenrat" verliehen. (d.h.. sicher nicht nur deshalb!) Mutter freute sich mit ihm und meinte, daß dies eine hohe Ehrung sei. Er aber meinte schmunzelnd: „Oh, nein, das ist eine Alterserscheinung", aber jedermann sah ihm an, daß er sich auch freute. Für uns Kinder sah er nicht alt aus. Im vorigen Jahr hatte er sich seinen Bart abnehmen lassen. Ohne Vorankündigung ging er fort und kam ohne Bart wieder. Wir schrien alle „Nein, nein, das geht doch nicht und immer wieder Nein!" Da schmunzelte er und sagte: „Seid ihr denn zu den Neinsagern gegangen? Der Frisör Böhm war mir schon lange in den Ohren gelegen: „Niemand trägt einen Bart, lassen Sie sich ihn abnehmen". Damals sah er dann wirklich zehn Jahre jünger aus, wie man so sagt. Überhaupt hatte er bis ins hohe Alter seine schwarzen Haare behalten, allerdings mit Stirnglatze, aber immer nur einzelne graue Fäden dazwischen. (Siehe Titelbild). 1937 war also ein stärkerer Wind angefacht worden. In Windsheim wurde jetzt die Wohnung der Augsburger Dia­konisse, die schon eh und je hier stationiert war, gekündigt. Es war ja eine städtische Wohnung, und die Stadtväter wollten eine „Braune Schwester". Sie fanden sie in einer Tochter von Pfarrer Blank aus Markt Berget. Insofern hatten wir Glück: Nie hörte ich, daß die Kirchliche und die Braune Schwester einander ins Gehege kamen. Und für die Diakonisse fand sich bald eine bequeme Wohnung bei Bauer Schmitt. Wenn die Nazigrößen gemeint hatten, wir würden klein beigeben und die Diakonissenstation auflösen, so sahen sie sich getäuscht. Auch gab es viele neue Kirchenaustritte. Bei Nacht und Nebel kam einmal ein junger Polizeibeamter, er müsse unbedingt noch heute den Herrn Dekan sprechen. Erst viel später, als immer mehr Kirchenaustritte bekannt wurden, erzählte uns Vater, daß Herr R. ganz verzweifelt zu ihm gekommen wäre: Herr Dekan, ich muß Ihnen melden, daß in Kürze mein Kirchenaustritt bei Ihnen registriert werden wird. Wenn ich vorwärts kommen will und nicht immer auf der untersten Stufe als Polizist bleiben will, dann muß ich aus der Kirche austreten! Aber es ist nur pro forma! Meine Frau und die Kinder bleiben selbverständlich drinnen, und erziehen tu ich meine Kinder auch christlich, wie ich es versprochen habe bei der Taufe meiner Kinder. Und glauben tu ich auch weiter, was meine Mutter mich gelehrt hat. Ich tue es nur, weil ich muß!" So etwa lautete seine verzweifelte Meldung.... Als im Jahre 1937 der Reichsbischof Müller die Reichsstadt Windsheim mit einem Besuch beehrte, baten die Kirchenvorsteher die anberaumte Sitzung, die zufällig an diesem Tag geplant war, fahren zu lassen, um „dem Reichsbischof seinen Saal füllen zu helfen". So meint ihr das doch? Nein die Sitzung bleibt, aber die Irrlehre des sog. Bischofs können nur die Pfarrer beurteilen. Wir drei Windsheimer Pfarrer werden da sein und seine Thesen beantworten." „Wer soll dann die Sitzung halten?" Pfarrer Rost aus Oberntief ist schon verständigt und weiß, wie ich die anstehenden Probleme beurteile, damit Sie abstimmen können." So kam es: Pfarrer Jäger und der Dekan waren aufmerksame Zuhörer bei Müllers Rede in der „Goldenen Gans" und Pfarrer Schuster bemühte sich, alles mit zu stenographieren, daß ihm kein Wort entging. Aber als die Ortsgeistlichen dem Redner Widerpart geben wollten, wurden sie nicht auf die Rednerbühne gelassen: Diskussion sei nicht vorgesehen. Müller hatte schon vorher einen Er­laß herausgegeben, daß nach keiner Rede debattiert werden durfte. Witzbolde hatten sofort ein treffendes Wort dazu gefunden. Das war der Maulkorberlaß. (Siehe Walter Allgeier). Daß Vater die Kirchenvorstandssitzung nicht ausfallen ließ wegen der Rede des Reichsbischofs Müller, der ja in Bayern nicht anerkannt wurde, hat ihm den Ruf der mangelnden Kompromißbereitschaft eingehandelt. Aber nahmen denn die NS - Verbände Rücksicht auf die kirchlichen Veranstaltungen, auf jegliche Gottesdienste? Aber freilich war dies keine „Retourkutsche", sondern dieser Zwiespalt machte die „Kampfsituation" deutlich, in der die Kirchen standen, und hier hieß es feststehen und nicht wanken! Nun mußten auch die drei Geistlichen von Windsheim darunter leiden. Ach, alles war so schwer, nirgends ein Lichtblick am Horizont. 1938 fand dann die endgültige Vertreibung der Juden aus Windsheim statt. Die Jugend war am Abend noch in der „Gaststätte zur Goldenen Gans" zu einem Appell wegen des 9. Nov. 1918 und 1923 versammelt, der etwa um 21 Uhr beendet war. Die Jugend ging heim und niemand hat auch nur im geringsten etwas geahnt, was für den Rest der Nacht geplant war und wozu sich die verbrecherischen Akteure Mut antrinken mußten. Überfall auf die Juden! Wir hörten erst am nächsten Tag in der Schule davon und liefen dann in die Herrengasse. Die Schau­fenster von Berneys Stoffladen waren mit Brettern vernagelt, aber die Splitter der Schaufenster lagen noch auf der Straße. Überall standen wenige leise diskutierende Leute zusammen. Auf der anderen Seite bei dem koscheren Metzger Lehmann sah es genauso aus, vernagelte Fenster, Schaufenstersplitter. Wo waren die Besitzer? Die Synagoge muß auch kurz gebrannt haben, wurde aber schnell, von der schon bereitstehenden Feuerwehr gelöscht, damit das Feuer nicht auf die Nachbarhäuser übergreifen könnte. Auch hatten die Brandstifter ein Auge auf die kostbaren Orientteppiche geworfen, um sie zu „klauen". Noch am Nachmittag wußten wir, daß alle Juden abtransportiert worden waren, wohin war unbekannt. Wir Kinder konnten dies gar nicht verstehen. Ich fragte Vater. „Warum hat denn die Polizei nicht eingegriffen, wenn die Scheiben eingeworfen worden sind. Das ist doch Einbruch und Raub und Diebstahl?! „Die Polizei? Die darf doch keine SA -Männer verhaften". „Warum denn nicht, wenn sie Böses tun?" Vater laut: „Warum nicht? Weil wir von Verbrechern regiert werden". - - -Die Welt war absolut nicht mehr in Ordnung. Vater konnte nicht in Erfahrung bringen, wohin die Juden gebracht wurden. Zuerst wurden sie ins Gefängnis eingeliefert, wie der Gefängnisdirektor sagte. Dann waren sie mit unbekanntem Ziel in verschiedenen Autos abgefahren (7). Sicher fragt sich mancher, warum die Juden so lange in Windsheim geblieben waren. Schon 1934 sind die Familien Waldmann und der Mathematiker Kaufmann, weggezogen. Erstgenannte sind sogar nach Amerika ausgewan­dert. Kaufmann wurde in Fürth, wo die letzte jüdische Schule noch bestand, als Lehrer angestellt. Diese galt zwar nur als Volkschule, aber niemand prüfte nach, welch anspruchsvoller Unterricht dort abgehalten wurde. Diese letzten Juden, die 1938 verschleppt wurden, wiegten sich wohl in dem irrigen Glauben, daß ihnen nichts geschehen würde, weil sie Weltkriegsteilnehmer gewesen waren. Allmählich hörte man, daß auch in anderen Städten, besonders wo eine Synagoge stand, diese durch Brand zerstört wurde, und daß ebenfalls die Löschgeräte schon bereit standen. So konnte man sehen, daß es kein spontaner Volksaufbruch, sondern ein lange vorbereitetes Spiel war. Wer die einzelnen Täter waren, hat man nicht herausgebracht, aber einer sah den anderen scheel an. Das Vertrauen in den nächsten Nachbarn schwand weiter, vor Denunziation, falscher Beschuldigung war ja niemand sicher und offenbar angetrunkene Parteigenossen zu allem fähig. 1938 - Meine Konfirmation Sie wurde vom 10. April Palmsonntag, wegen der Österreichwahl auf den 3. April Judika, vorverlegt. Welche Kompromißbereitschaft! Hier konnte man sich den politischen Terminen anpassen oder sich auf diese einstellen. Nichts konnte man aber dagegen tun, daß zum ersten Mal das eintrat, was Vater schon all die Jahre vorher befürchtete (8): Pfarrer Fuchs hielt in Windsheim für neun Kinder in BDM und in HJ - Uniform eine Deutschchristliche Konfirmation in der Spitalkirche am Ostersonntag. Den Präparandenunterricht haben die Kinder noch beim richtigen Pfarrer bekommen, in den Konfirmandenunterricht gingen sie zu Pfarrer Fuchs. (Die neun Kinder rekrutierten sich übrigens aus beiden Sprengeln, nicht nur aus dem ersten Sprengel meines Vaters). Vater hielt, glaube ich, einen guten Unterricht, denn es ist mir noch sehr viel aus dem Konfirmadenunterricht in Erinnerung. Auch an besondere Disziplinschwierigkeiten kann ich mich nicht erinnern, nachdem die ersten Übergriffe mit Strenge behoben waren. (Siehe Anekdoten.) Die Kirchengeschichte hatte er vollständig mit allen Daten auswendig im Kopf. Und die lächerlichen Vorwürfe gegen das Alte Testament konnte er, kindgemäß entkräften. Das Wichtigste, was unseren Christenglauben ausmachte, faßte er in drei kurze Thesen zusammen. In der Taufe sagt Gott zu uns Menschenkindern: 1. Ich will Dein Vater sein, so sei nun du mein Kind! 2. Christus sagt: Ich will Dein Erlöser sein, sei nun du mein Eigentum. 3. Der Heilige Geist sagt: Ich will dein Tröster und Beistand sein , sei du meine Wohnung. Weil nun das kleine Kind einfach noch nicht sagen kann: Ja, ich will!, deshalb sagen es nun die Paten und die Eltern. Die Konfirmation ist der Augenblick, wo wir nun diese großen Gnadengaben, die uns Gott schon in die Wiege gelegt hat, dankbar, mit vollem Verständnis und aus freiem Willen annehmen. So eine Rückantwort zu Gott zu finden, dafür brauche ich doch keinen neuen Glauben oder einen anderen Pfarrer! Das konnte ich nicht verstehen. Die Kinder, die ich kannte oder mit denen ich sogar befreundet war, standen nun nicht mit am Altar der Kilianskirche, um als mündige Christen aufgenommen zu werden --- ich konnte es einfach nicht verstehen und litt sehr darunter. So habe ich meine Konfirmation ganz in trauriger Erinnerung. Nun wurde Vaters Wegmeldung von Windsheim angenommen. Am 23. März 1939 teilte ihm, zunächst noch unter dem Siegel der Verschwiegenheit Oberkirchenrat Breit mit, daß er in der Vollsitzung nach Fürth - Burgfarrnbach versetzt worden war. - Jedoch hatte er noch einen Ärger wegen der „Volkszählung" Anfang 1939. Es wurden Fragebogen ausgeteilt, auf denen bei der Frage nach der Religion drei Sparten vorgesehen waren: 1. Evangelisch, 2. Katholisch, 3. Gottgläubig. An zwei Sonntagen hintereinander wurde nun abgekündigt, daß jeder die Religion angeben soll, in der er getauft sei. „Gottgläubig ist keine Konfession!" Doch kamen nun viele Zettel heraus, etwa so: Vater evang. Mutter kath. Kinder: gottgläubig. Oder Vater: gottgläubig (d.h. aus der Kirche ausgetreten) Mutter katholisch, Kinder evang. (nach dem Vater, früher einmal) „Das sind doch keine Familien mehr. Wo ich doch abkündigen ließ, daß gottgläubig eine erfundene Religion ist!" Mutter: „Die Leute, die es anging, waren halt nicht im Gottesdienst." „Ach was, es waren genug Spitzel drin..." Mutter: „Spitzel?" „Ja, auf der Orgelempore drücken sich immer ein paar herum".... Ja, Spitzel hatten's schwer. Sie mußten zweimal am Sonntag in den Gottesdienst: vormittags den Dekan abhören und nachmittags die Notizen dem Pfarrer Fuchs vorlegen, und wenn unterwegs ein Zettel herausfällt, noch den Spott der Nachbarin anhören. Ja, es hat nicht viel gefehlt, daß der Spitzel auch die Nachbarin ins KZ gebracht hätte, vor lauter Wut. Offenbar haben aber die Anklagepunkte nicht ausgereicht, denn Vater wurde nie denunziert. Er predigte das Wort Gottes und Seitenhiebe auf den Unglauben des Zeitgeistes konnte er, für treue Kirchgänger leicht verständlich, aber für die, weniger mit der gottesdienstlichen Diktion vertrauten, Personen, unverständlich, anbringen. Dadurch waren seine Predigten schon zeitgemäß, aber nicht polemisch! Aber stillschweigend wurde das Gebet für den Führer umgewandelt in ein dringendes Gebet für eine „gute Obrigkeit". Dagegen wurde Landesbischof Meiser immer extra genannt, im Kollektengebet, seitdem er im Hausarrest die Macht der Widersacher selbst gespürt hatte. Am 1. Aug. 1939 sind wir nun in Burgfarrnbach ohne Pannen aufgezogen. Der Abschied von Windsheim spielte sich nur in der Pfarrgasse ab, alles andere hatte sich Vater verbeten. Vom Pfarrerkollegium bekam er ein schönes Album, mit allen Kirchen des Dekanats. Alle Kollegen bedauerten seinen Weggang sehr. Vor unserem Haus verabschiedeten sich noch viele Nachbarn, einige Kirchenvorsteher, natürlich auch die Familie Hosséus. Herr Feldner, Inhaber der Transportfirma, machte einige Aufnahmen und nahm dann Vater und Mutter in seinem Privatauto mit. Wir andern fuhren mit Tante Henny im Zug. So erschienen wir in Burgfarrnbach vor dem dortigen Pfarrhaus, als die Begrüßung mit Chor der Schulkinder und Rede eines Kirchenvorstehers, schon im besten Gang war. Mit dem Abschiedsschmerz und dem freundlichen Entgegenkommen der neuen Gemeinde mußten wir auf einmal fertig werden. Wie gut, daß es viel Arbeit gab. Und bis wir uns versahen, waren wir schon ganz heimisch bei den Burgfarrnbachern. Samstag: Staatsjugendtag Jungmädelschaft, die Organisation der 10 - 14 Jährigen, kam für Marie und mich nicht in Frage, also mußten wir am Samstagvormittag, wenn die Jugendappelle stattfanden, in die Schule gehen, die Nichtorganisierten hätten ja sonst einen freien Tag gehabt. Übrigens habe ich diesen Samtagsunterricht in bester Erinnerung. Meine Freundin, Lotte Pfister, mit der ich seit meinem 7. Lebensjahr befreundet war, fand sich als einzige, außer mir, aus unserer Klasse zum Unterricht ein. Das war prima. Etwa 15 - 20 Schüler aus allen Klassen mußten bis Mittags beschäftigt werden. Immer wieder wurden andere Lehrer eingesetzt. An viele Stunden kann ich mich noch gut erinnern. Studienrat Paul Müller, unser Mathelehrer, lehrte uns praktische Stereometrie. Das waren, glaube ich, die einzigen Stunden in die­sem Fach, die ich erlebte. Auf dem - kriegsbedingten gekürzten Unterrichtsplan stand es nicht mehr. Wir sollten auf blauen Aktendeckeln durch scharfe Überlegung, das Dreidimensionale auf eine Fläche aufzeichnen. Bevor wir das Ganze ausschnitten, mußten wir es natürlich vorzeigen, damit die überlappenden und mit Leim zu bestreichenden Anhängsel, sich nicht womöglich gegenüber standen, während sie auf der anderen Seite fehlten. Ich weiß noch, wie stolz ich über meinen ersten Oktaeder war. Ein Würfel kam als nächstes dran. Dasselbe Hohlgebilde mit einem Sechseck war das Schwerste. Prof. Werner, Altphilologe, mit der drastischen Beschreibung von „Hannibals Alpenüberquerung" zeigte sich von einer ganz anderen liebenswerteren Seite und bei schönem Wetter im Frühling durften wir mit Studienrat Hosséus sogar den „Gipshügel" besichtigen. In gebührendem Abstand konnten wir, die kleine Schülerschar, die süßen kleinen Sonnen der Adonisröslein (Adonis vernalis) bewundern, die sehr streng geschützt sind. (Einziger Standort in ganz Deutschland.) Diese ausführliche Erlebnisschilderung, möchte beweisen, daß wir durchaus eine friedliche, unbekümmerte Kindheit erlebten, wenn wir auch nicht ganz im Strom der Zeit mitgeschwommen sind. Einmal war es nicht leicht, zurückstehen zu müssen, als die Gruppe des BDM auf einer Rheinreise von Jugendherberge zu Jugendherberge wanderte, und viele schöne Erlebnisse hatte, aber durch die Erzählungen wurde ich schon ein wenig getröstet. 1936 kam Marie nach Nürnberg und 1937 wurden alle ev.. Jugendverbände aufgelöst und in die Hitlerjugend eingegliedert. Damit gab es keinen Samstagsunterricht mehr. Urlaubsfreuden In den Geschwisterbriefen erwähnte Vater immer wieder unsere „bescheidenen" Urlaubstage in Wachsenberg, einem kleinen Ort in der Nähe Rothenburgs. Aber wir Kinder wußten noch nicht, was uns entging, wenn unsere Vettern und Basen in Oberammergau oder anderen Gebirgsorten Bergtouren und Rucksackwanderungen erlebten. Wir freuten uns auf unser Wachsenberg, nahmen Badeanzug für den Karrachsee mit und genügend Lesestoff für schlechtes Wetter. Mit einem Windsheimer Taxi rollten wir an der Gastwirtschaft an. Dies war einfacher wegen des Gepäcks als mit dem Zug über Schweinsdorf und vor allem billiger. Vom „Luginsland" blickten wir auf „unser" Rothenburg, ohne zu wissen, daß dies auch der Standort Friedrich VI. des Burggrafen von Nürnberg, war, als er zugeben mußte, daß er die Fehde gegen den „König von Rothenburg" abblasen mußte, da die Kriegskassen völlig leer waren und die Bundesgenossen sich heimlich still und leise aus dem Staub machten. Damals hat Rothenburg, diese starkbefestigte Stadt gegen ca. 300 (!) Feinde, Städte und Grafschaften standgehalten. Es wurde ja niemals gestürmt und eingenommen. Von dem Standort Friedrichs wußten wir nichts, aber mit der Geschichte Rothenburgs machte uns Vater damals in großen Zügen schon bekannt. Von Wachsenberg aus waren wir jedesmal mindestens einmal in Rothenburg, sahen das mittelalterliche Stadtbild an und standen ehrfürchtig vor dem Toplerschlößchen. Einmal kamen wir mit Sack und Pack in Wachsenberg an und wurden freudigst von einer Windsheimerin begrüßt. (Ich glaube, sie war eine Bewohnerin des Pfarrtöchterheims). Sie wurde nun unsere Gesprächspartnerin. Nach dem Frühstück zogen wir freilich Ios zum Baden oder Wandern, kamen mittags zum Essen wieder ins Gasthaus. Nun konnten die Eltern in der gemieteten Gasthausstube ein Mittagsschläfchen halten. Dann bestimmte das „Fräulein" G. den weiteren Ablauf des Tages. Sie bat sich für ihre Abendstunden unseren „Lesestoff" aus (war sie wohl früher einmal Lehrerin gewesen?), fand ihn dann beim Zurückgeben ziemlich albern und ', kindisch (wir waren doch auch noch Kinder!) und redete vor uns über uns (wir waren doch nicht taub oder beschränkt!?). Schließlich sagte Vater eines Abends, wir müßten morgen früh um 3/4, 8 Uhr schon fertig sein. Fräulein G. habe Geburtstag und wir sollten sie mit ihrem Lieblingslied: „Lobe den Herren, alle die ihn ehren" wecken. Besorgt sahen wir die acht Verse an, aber Mutter meinte, daß fünf genügen würden. (Na, klar! Bis dahin wird sie ja wohl von unserem Gesang aufgewacht sein!) Die „Überraschung" am nächsten Tag gelang bestens. Sie war zwar schon angezogen, aber zu Tränen gerührt, daß wir ausgerechnet ihr Lieblingslied gesungen hatten. (Dabei hatte sie gestern nichts anderes als von „Geburtstag" und „Lieblingslied" geredet.) Dann wurden wir alle zum Nachmittagskaffee eingeladen und sie nahm voll und ganz von unseren Eltern Besitz. Wir waren gezwungen in unseren albernen Büchern zu lesen. Gott sei Dank fuhr sie dann bald wieder heim. Unsere Eltern gehörten wieder uns. Ein weiterer Urlaub führte uns an den Walchensee samt Herzogstand. In Jachenau logierten wir und hatten schon einen ganz schönen Anmarsch bis zum Fuß des Berges. Jetzt auch noch die ganze Steigung (!) So schlimm hatte ich mirs nicht vorgestellt! Marie und Friedrich, meine Geschwister, hatten anscheinend nicht so viel Beschwerden mit ihren Beinen. Vater und ich waren der Nachtrab, kamen aber doch noch zur wohlverdienten Erbsensuppe zurecht, ans Herzogstandshaus. Zum Glück brauchten wir zum Abstieg nicht einmal ganz eine Stunde. „Vorsicht. Bleibt auf dem Weg!". Ja, wir nahmen nur kurze, übersichtliche Abkürzwege, und waren dann lange vor den Eltern drunten. Vater abschließend: „Na, eine Gipfelstürmerin wirst du wohl kaum!" „Aber eine Gipfelabwärtsstürmerin!" Ein weiterer Kinderurlaub führte uns nach Hirschbach. Ganz in der Nähe, in Eschenbach, besaßen die Großeltern unserer Vettern und Basen aus München und Buchenau ein Wochenendhaus, das sie in den Ferien wechselseitig bewohnen durften. Gemeinsame Unternehmungen mit diesen Freunden, bereicherten unseren Aufenthalt dort in der „Hersbrucker Schweiz" sehr: z.B.. Noristörlein, Versteinerungen sammeln, gemeinsames Essen im Gasthaus (neun Kinder): lauter Erlebnisse, die wir noch nie hatten. Jedoch mußten wir in Hirschbach noch ein Sonderschicksal" aushalten: Wir Kinder erwachten gleich am ersten Morgen mit roten Flecken, besonders an den Beinen.. Da wir nicht wußten, woher diese juckenden Stellen kommen könnten, fuhren unsere besorgten Eltern mit uns dreien nach Eschenbach, denn Großvater Kirste war ja Arzt. Der wird diese „Infektionskrankheit" schon diagnostizieren können. Ja, das konnte er. Es waren Flohstiche. Bis zum Nachmittag bildete sich auf jedem stark bekratzten Stich eine Blase, ähnlich einer Brandblase. Großvater Kirste sagte kategorisch Aufstechen! „Nein", schrien wir und liefen davon. Schließlich wurde ein Geschäft ausgehandelt. Für jede aufgestochene Blase bekam man 10 Pfennige, wenn man schrie, bekam man ein Fünferle abgezogen. Ich weiß noch, daß ich an diesem Nachmittag 1 Mark fünf verdient habe. Das konnte ich gut gebrauchen, denn in Hirschbach war an diesem Wochenende Kirchweih und das Karussell dudelte bis nachts um 10 Uhr vor unserem Schlafzimmerfenster. So verjubelte ich meinen ganzen Verdienst beim Karussellfahren. (Friedrich und Marie werden es ähnlich gemacht haben.) Da diese Ferienfahrten höchstens 14 Tage beanspruchten, hatten wir noch viel Zeit unseren eigentlichen Ferienort zu genießen: Rummelsberg, das Paradies unserer Kindheit. Bei Großmama, Onkels und Tanten waren wir immer gern gesehen. Diesen Eindruck vermittelten sie uns stets mit Zärtlichkeit. Diese Ferienerlebnisse würden ein eigenes Buch füllen. Ich bin froh, daß meine Kinder auch noch einige Jahre dort fröhliche Kindheitstage erleben durften. Rechenkunst Bei unseren Ferienwanderungen, wenn Vater so ganz für uns Zeit hatte und wir immer müder einher stolperten, erzählte er uns Märchen. Merkwürdigerweise kann ich mich nur an zwei erinnern, die ich von Vater gehört habe, bevor ich sie selbst las: „Die zertanzten Schuhe" und „Der verlorene Schlüssel". Aber bitte, liebe Kinder und Leute, stellt nun keine tiefenanalytischen Überlegungen an, weshalb er gerade diese Märchen für kleine Kinder passend fand, es waren halt solche, in denen keine Extragrausamkeiten vorkamen, die man dann weglassen mußte, bis zu der Zeit, wenn sie die Märchen selbst lesen konnten. Ab und zu machte er uns aber auch mit der Rechenkunst bekannt. Dies war keine Mathematik, sondern er hatte so viel Freude daran, festzustellen, wie die Zahlen zueinander paßten oder harmonierten. In Windsheim wohnten wir in der Pfarrgasse 473. (Damals gab's so hohe Nummern). Nun belehrte er uns, daß bei einer dreistelligen Zahl gewisse Regelmäßigkeiten festzustellen sind: Summe der ersten und letzten Zahl, also 4 und 3 = die mittlere, also 7. Dann ist diese Zahl durch elf teilbar: 473 : 11 = 43. Ein anderes Beispiel: 792 = 7 + 2 = 9, also 792 : 11 = 72. usw. So gingen wir oft die Hausnummern durch und freuten uns, wenn wir eine durch 11 teilbare Zahl entdeckten. Bald wurden aber die Straßen anders durchnummeriert und hatten schließlich nur noch zweistellige Zahlen. Da boten dann die dreistelligen Autonummern ein Rechenfeld. Das spiele ich noch heute durch! Unser erster gebraucht gekaufter VW hatte das Kennzeichen: Wü - EE 101. Als Vater diese Nummer sah - 101 - und mich darauf aufmerksam machte, hatte ich sie schon längst als „die berühmte Zahl 101" erkannt ! Oh, könnte ich ihn doch noch fragen von welchem Genie (9), diese Story stammte, die er uns in Windsheim mal erzählte: In einer Schule wollte der Lehrer einmal seine Schüler still beschäftigen. Er gab ihnen die Aufgabe, alle Zahlen von 1 bis hundert zu addieren, damit werden sie schon eine Stunde beschäftigt sein, dachte er. Aber er war baß erstaunt, daß schon nach wenigen Minuten einer heraustrat und die richtige Lösung vorzeigte. Wie hatte es dieser angestellt? Eine kurze Überlegung brachte ihn auf diese Idee: Ich werde die erste und die letzte Zahl zusammenzählen und dann immer so weiter, dann muß ich nicht addieren, was ja so lange dauert, sondern kann multiplizieren. So machte er es : 1 + 100 = 101 2 + 99 = 101 3 + 98 = 101 Das Ganze bis 50 + 51 = 101. So hatte er in einigen Minuten das Resultat: Die Summe aller Zahlen von eins bis hundert ist: 50 mal 101 = 5050. Voller Respekt stand der Lehrer auf und verneigte sich. Er hatte nicht gewußt, daß solch ein Genie unter seinen Schülern saß. So etwas gefiel mir natürlich. Es war ja auch so praktisch, daß man einen Vater hatte, der die Probleme in den Hausaufgaben durchschauen konnte. Immer wenn ich mit meiner Rechenaufgabe zu ihm kam, dann sagte er: „Ach, das ist doch ganz einfach", aber das war schon meistens, wenigstens in Fürth, etwas voreilig gesagt. Manchmal ging ich lieber aus dem Zimmer, um nicht zu stören, aber immer konnte er mir den Gang des Ansatzes zur Lösung zeigen. So las ich gestern in den Geschwisterbriefen: „Berta hat die erste Mathematikschulaufgabe in Fürth als Drittbeste der Klasse mit einer 2 geschafft". Das wußte ich nicht mehr. Ich konnte mich nur daran erinnern, daß ich alle meine schönen Einser aus Windsheim in Fürth nie mehr bekam. „Ständerling" Eine Angewohnheit Vaters, war, unterwegs Leute aufzuhalten und mit denen im Stehen zu debattieren oder sich zu unterhalten. Mutter nannte das „Ständerling". Einige mußte ich mit Geduld besteh'n, von anderen erfuhr ich nachher. Einmal blieb er bei dem Mathelehrer Kaufmann, dem einzigen Juden unter unseren Lehrern, stehen und besprach mit ihm irgendein mathematisches Problem. Es muß also noch vor 1934 gewesen sein, denn danach wurde dieser auf einmal im Lehrkörper untragbar. Vater genierte sich nicht eine ganze Weile öffentlich mit dem „Schmu" zu reden. Ich sprang die Treppe beim Amtsgericht rauf und runter, aber Vater fand kein Ende. Es war ihm egal, wenn man ihn für einen Judenfreund hielt! (siehe auch unter Anekdoten). Ein andres Mal war er ein wenig kleinlaut, als er etwas verspätet zum Mittagessen kam, „Heute habe ich gemerkt, daß Lehrer O. am liebsten fortgegangen wäre, als ich ihn auf der Straße anhielt, um mit ihm über die zu lernenden Gesangbuchlieder zu sprechen. Immer drehte er sich um, und sah, wie ich meine, nach Leuten aus, die es ihm ankreiden wurden, daß er so lange mit mir geredet hat (1937 !). Mutter beruhigte ihn in der Weise, daß sie meinte, „Sicher hat er eine tüchtige Hausfrau daheim, bei der das Essen um 12 Uhr auf dem Tisch steht und die ärgerlich wird, wenn nun ihr Mann zu spät kommt". „Meinst du?" „Ja, sicher" so war er wieder beruhigt. Letzter Ständerling in Neuendettelsau: Nachdem meine Mutter ins Pflegeheim kam, wo sie dann 1960 starb, (siehe „Ruhestand") zog Vater wieder in die Schlauersbacher Str. 15, zu seiner Tochter. Da diese erst mittags aus der Schule kam, so wollte er das Mittagessen vorbereiten. Einmal stellte er das Sauerkraut schon auf den Elektroherd. Da fiel ihm ein, daß er die gekochten Ripple noch nicht eingekauft hatte. Also marschierte er zum Metzger ab. Unterwegs traf er einen Bekannten und hielt einen „Ständerling". Wochen später fragte er mich, die Hausfrau, die täglich für sieben Personen kochen mußte: „Weißt du eigentlich, daß das Sauerkraut ganz schwarz wird, wenn es anbrennt?" Ich (lachend): „Nein, das wußte ich noch nicht ." Marie erzählte es mir später: Bis sie von der Schule heimkam, waren alle Spuren dieses Verhängnisses beseitigt, samt dem Kochtopf! Ariernachweise und Stammbaumforschung 1936 scheinen sich die Briefe um Ariernachweise gehäuft zu haben. Für Vater war das eine Aufgabe, die er unbesorgt jemand anderem aufbürden konnte. Es war nicht immer einfach bei den dürftigen Angaben, den Bittstellern die richtigen Großeltern zuzuteilen. Dann gab es auch dabei viel zu lachen. Die Absender waren wenig geübt, einen Brief zu schreiben, man mußte wirklich oft rätseln, was eigentlich gesucht wird. Das bedeutete noch einmal nach genaueren Angaben zurückzuschreiben. Ein Ahnenforscher schrieb: „Die Unterlagen meiner arabischen Großmutter müssen bei Ihnen in den alten Büchern liegen". (Na, ich danke) Meine Mutter, die oft und gern diese Schreibarbeit übernahm, schrieb gewissenhaft und sorgfältig alles genau so ab, wie es dastand. Da bekam sie einmal eine empörte Rückantwort: „Ein uneheliches Kind kann man einer Frau verzeihen, aber gleich vier Stuck zu hinterlassen, da steckt kein guter Charakter dahinter". Im Kirchenbuch stand: Viertes uneheliches Kind .... Dabei vergaß er ganz, daß er selbst nicht auf der Welt wäre, wenn dieses Kind nicht geboren worden wäre. 2. September 1936. Mutter schreibt: „Arischer Nachweis und Stammbaumforschung machen hier im Pfarramt immer noch, nach wie vor, viel zu tun. Zu dritt sind wir mit den Arbeiten beschäftigt. Gestern nach 6 Uhr abends kam ein junges Mädchen, wie ein etwas verwahrloster Wandervogel aussehend, und gab an, daß sie eine Schwedin sei. Sie wußte, daß ihr Urgroßvater in Windsheim geboren sei und möchte den Eintrag einsehen. Außerdem war es für sie natürlich sehr interessant zu hören, daß ein Major a. D. in München, ebenfalls nach Ahnen dieses Namens forscht. Zu Tränen gerührt war sie, als nach und nach allerlei festgestellt werden konnte. Gottlieb war am Nachmittag schon ein Dutzend mal unterbrochen worden, bei seiner Vorbereitung für den Abend. Er hatte in der Bibelstunde über das Thema zu sprechen: „Bekenntniskirche oder Nationalkirche". So lotste ich die begeisterte Dame ins andere Zimmer, aber es war nicht abzusehen, wann sie zufrieden abziehen würde. Ich mußte aber in die Küche, weil Anna noch zu waschen hatte. Deshalb bestellte ich sie auf den nächsten Morgen. Da mußte dann von 8 - 10 Uhr alles andere zurückstehen! ! Sie war aber so erfüllt von ih­ren Entdeckungen, daß man sie wirklich nicht abweisen konnte Sie fuhr dann mit dem Rad nach Burgbernheim, wo ihre Ururgroßmutter geboren ist. So geht es manchmal zu bei uns !" (Siehe auch bei den Anekdoten.) Burgfarrnbach - Kriegsjahre und kurz danach Da der Herausgeber dieser Schriftenreihe, Karl Albert, in der Biographie meines Vaters den Teil 1 bearbeitete und den Abschnitt: „In memoriam Kirchenrat Gottlieb Volkert in St. Johannis in Burgfarrnbach" verfaßte, möchte ich nur in kurzen Zügen unser Leben in Burgfarrnbach in der Familie schildern und dabei immer wieder auf die Geschwisterbriefe zurückgreifen. Nun wurden wir, Friedrich und ich Bahnschüler. Friedrich ging ins Humanistische Gymnasium - heute Schliemann - Gymnasium - und für mich kam, gemäß meiner Vorbildung in Windsheim, nur der lückenlose Anschluß an die „Oberrealschule für Jungen" in Frage. Dort legte ich im Frühjahr 1942 das Abitur ab. Sofort wurde der Rest der Klasse, der noch nicht beim Militär war, in den RAD eingezogen. Ich leistete diesen, im landwirtschaftlichen Teil, in Friesengassen in Unterfranken ab und kam anschließend zur Rüstungsindustrie nach Schweinfurt in den Betrieb SKF bis 30. März 1943. Da ich als Berufswunsch „Pharmazie" angegeben hatte, einen Zweig im Gesundheitsbereich, so wurde ich nicht weiter kriegsdienstverpflichtet, sondern konnte anschließend meine Praktikantenzeit der Berufsausbildung nach Wunsch in der Lichtenhofapotheke in Nürnberg beginnneu und Anfang 1945 erfolgreich abschließen. In diesen zwei Jahren wurde ich wieder Pendlerin von Burgfarrnbach nach Nürnberg bis zum bitteren Ende der Lichtenhofapotheke am 2. Jan. 1945. Da ich noch in der Ausbildung stand, zog ich mit meinem Chef in die Destschherrnapotheke, dessen Besitzer gestorben war und reihte mich dort in die vorhandene Belegschaft ein. Die gesamte Belegschaft hatte aber mehr als genug zu tun. Die Fliegeralarme begannen immer früher am Vormittag. Einmal war ich noch vor 8 Uhr unterwegs. Öfters gab es Bombenabwürfe und nach der Entwarnung wurde unsere Apotheke regelrecht gestürmt, da sehr viele andere Apotheken zerstört waren. Einmal zählten wir 380 Kunden am Tag, nicht gezählt die Leute, denen wir Erste Hilfe leisten mußten. Da der Zugverkehr fast ganz zum Erliegen gekommen war, fuhr ich mit meinem Rad von Burgfarrnbach bis zum Plärrer, täglich 13 Kilometer hin und ebensoviele zurück, einige Male mußte ich wegen einer Reifenpanne es fast die ganze Strecke heimwärts schieben.. Am 16. Februar machte ich mein praktisches Examen, das sog. „Pharmazeutische Vorexamen," das etwa dem Physikum bei den Ärzten entspricht, in der Kreuzapotheke bei Herrn Apotheker Neuschütz. Das mündliche Examen fand in der Krankenhausapotheke, aber diesmal im Luftschutzkeller am 19. Febr.. 1945 statt. Der Examinator, Pharmazierat Fischer, rannte immer wieder zu den Durchsagen, die im Radio kamen, weg, so daß ich mir für die Antwort immer ganz schön Zeit lassen konnte. Dieser bekannte Pharmazierat, der an dem Riesenwälzer, den wir zum Examen durcharbeiten mußten, mit be­teiligt war - Fischer, Kaiser, Zimmermann, - nahm sich beim Herannahen der Amerikaner, im April oder Mai 1945, das Leben. Trotz des Näherkommens der Feinde und trotz der völligen Unübersichtlichkeit der Lage, trat ich am 1. April 1945 meine Assistentinnenstelle in Windsbach bei meinem Onkel in der dortigen Stadtapotheke an. Dann ver­lobte ich mich mit Pfarrer Eduard Winter. Wir heirateten im Mai 1946, also ganz genas ein Jahr nach Kriegs­ende, in Burgfarrnbach. Meine Schwester hatte ihre Ausbildung als Zeichenlehrerin für die höhere Schule 1944 beendet, noch zwei Se­mester Germanistik in Erlangen drangehängt und sollte nun in Neustadt/Aisch ihre erste Stelle beginnen. Nur 14 Tage war sie dort, dann kam der Zusammenbruch. Alle Schulen waren bis zum Herbst 1945 geschlossen. So kam sie wieder ins Elternhaus zurück. Man konnte die Zukunft gar nicht überblicken. Man mußte einfach warten, daß sich das Leben wieder normalisierte. Aber nun will ich noch andere Familienereignisse erzählen, die das Leben in Burgfarrnbach bestimmten, vor allem die Einberufung und den Heldentod meines Bruders Friedrich. Geschwisterbrief: Mutter schreibt am 12. Sept 1943. „Der alte Rundbrief endete mit den traurigen Schilderungen der Zerstörung Nürnbergs*) [Durch Bombenabwurf am 10. 11. 1943 waren auch in Burgfarrnbach bereits drei Tote zu beklagen. (1944 15 Tote, 1945 ein Gefallener im Ort und ein amerikanischer Leutnant). Das Leid für die Hinterbliebenen lindern zu helfen, Trost zu spenden, war selbst für den Kirchenrat eine schwierige Aufgabe. (vgl. auch Text Seite 119)] durch die gräßlichen Fliegerangriffe vom 11. und 28. August. Unterdessen habt Ihr in München auch so eine Schreckensnacht durchgemacht. Gottlob, daß Ihr auch behütet worden seid... Es ist schon dafür gesorgt, daß unsere Freude über die Erfolge im Süden nicht zu übermütig wird, wenn wir nach dem Osten sehen. Trotz aller Anstrengungen scheint dort immer die Gefahr zu bestehen, daß Truppenteile abgeschnitten werden. Seit 25. August haben wir nun auch einen Soldaten. Nachdem Friedrich ein Vierteljahr in Schlesien im Arbeitsdienst war, dann vierzehn Tage daheim sein konnte, kam er nun so ganz in unsere Nähe zum Militär. Schon nach achttägiger Dienstzeit wurden die Rekruten vereidigt. Leider hat er aber noch keinen freien Ausgang gehabt. Doch konnte ich ihn schon dreimal abends in der Infanteriekaserne in der Sedanstraße (Südstadt Fürth) besuchen, um ihm noch einiges Nötige zu bringen. Friedrich hatte nämlich das Pech, viel zu große Marschstiefel zu bekommen, deshalb hatte er gleich mehrere Blasen an den Füßen. ... Der Dienst sei im Ganzen nicht zu streng, wenig Kasernenhof, aber viel Marschübungen, bei Tag und bei Nacht. Er hat nette Kameraden auf sei­ner Stube, fast alle gleichaltrig, 18 Mann in einem kleinen Raum. Berta war einmal mit dort. Sie beanstandete den argen Schmutz in den Kasernen: „So was hätte es im RAD nicht gegeben!" .. . Vater: 4.12.43: Ein einzelnes englisches Flugzeug wurde abgedrängt, kam in die hiesige Gegend, wurde hier beschossen und soll notgelandet sein. So hatten auch wir heute früh von 3/4 5Uhr bis 3/4 6 Uhr Alarm. Wir Eltern gingen nochmals zu Bett. Ich fühle mich zur Zeit nicht wohl. Ich war beim Ohrenarzt, bin aber leider nicht kuriert. Denn der Herr Doktor hat mich, nach Verordnung einer zementartigen Salbe, entlassen. Aber jetzt ist die vorhandene Entzündung und Schwellung ärger als vorher und auch noch schmerzhaft, was sie vorher nicht war. Wenn man nur nicht in der Schulstube seine Ohren so notwendig brauchte! Die Amerikaner scheinen sich auf diese abscheulichen Feuerüberfälle auf friedliche Stadt- und Landbevölkerung spezialisiert zu haben. Es hilft aber nichts anderes über die Stunden der Gefahr, als ein starkes Gottvertrauen. In dieser äußeren Lage soll jetzt adventliche und weihnachtliche „Stimmung" aufkommen. Die Stimmung wird wohl kaum herzubringen sein. Aber die Festtatsache wollen wir uns um so dankbarer verkündigen lassen! In unserer Pfarrkonferenz hielt heute Prof. Georg Kempf, Erlangen, einen Vortrag über adventliches und weihnachtliches Singen. Er konnte uns begeistern für den Reichtum des altkirchlichen Sangesgutes, das im neuen Cantionale der bayerischen Landeskirche den Gemeinden wieder nahegebracht wird. Da sieht man so recht, wie unsere Gemeindegottesdienste immer noch in der rationalistischen Verkümmerung und Verarmung stecken. Da soll jetzt die bessernde Hand angelegt werden. ... Mutter: 10.12.1943: Nun will ich noch von Friedrich berichten, was ich weiß. Er kommt nicht viel zum Schreiben. Dazwischen hatte er noch viel Zahnweh. Ein serbischer Zahnarzt zieht ihm nun einen Zahn nach dem andern. Aus seinen Briefen schließt man, daß die Gegend, in der er mit seiner Abteilung zur Ausbildung untergebracht ist, augenblicklich nicht stark von Banden beunruhigt wird. Er war wohl einmal acht Tage in Stellung an der Drina, aber ob es dabei ernst geworden ist, schreibt er nicht. Man möchte immer noch viel mehr von ihm wissen, aber daß nicht viel Zeit zum Briefschreiben bleibt, kann man verstehen. Er will ja auch seinen Freunden schreiben. Burgfarrnbach, 10.3.1944: Vater .... Seit dem 25.2. war dann der Luftangriff mit seinen Folgen, die Ursache, daß man zu nichts anderem kam. Toni war um den 25. herum gar nicht wohl, hätte im Bett bleiben müssen, war pflegebedürftig, ohne daß jemand dafür da war. Der wiederholte Aufenthalt im Keller hat ihr nicht gut getan. Ihr schreibt alle so nach unserem Befinden. Dafür danken wir euch recht herzlich. „Das mit dem Luftangriff war so: Viele Leute befanden sich in der Wohnung, darunter auch wir. Da hörten wir den Radioansager, der über die Bewegungen der angreifenden Luftgeschwader Mitteilungen machte. Und als er allen Ernstes mahnte, daß niemand den Luftschutzraum verlassen solle, mußten wir ihn erst aufsuchen. Wir waren noch nicht auf der Treppe, als es rings um uns donnerte und krachte, explodierte und stürmte. Glassplitter flogen uns entgegen. Doch schließlich waren wir drunten, hörten noch einige Detonationen in der Nähe, dann verzog sich das Unwetter mehr nach Fürth zu. Wir vermuteten richtig, daß die „Waggonfabrik" (jetzt Flugzeugwerft) zwischen hier und Fürth, wo Marie vor zwei Jahren ihren Rüstungsdienst ableistete, das Ziel des Angriffs war. Auch dort dauerte der Angriff nicht lange. Ich glaube in einer halben Stunde war alles vorbei: Die Fabrikgebäude fast alle in Brand, das Rollfeld, die Startbahn, zerstört, alles aufgewühlt und viele, viele Menschen, z. T. über der Arbeit getötet. In einem an der Haltestelle Unterfürberg haltenden Zug sind 13 Schulkinder und etliche Erwachsene getötet worden. Einige Tage später hatte ich hier acht Opfer, in Fürth eins, zu begraben. Recht schlimm verwüstet ist unser Friedhof. Acht Sprengbomben schlugen in denselben ein und einige mehr ganz in der Nähe. Unsere schöne Aussegnungshalle ist auch zerstört. Friedrich kam überraschend am 29.2. für acht Tage auf Urlaub, arg kurz, aber er hat ihn dankbar genossen. Mutter: „Gestern abend, als Friedrich abfahren mußte hat es so viel geschneit, daß die Züge alle Verspätung hatten, da kam er sicher zu spät in Prag an, um den Anschluß nach Milowitz zu erreichen. Er mußte dort nämlich zum Zahnarzt um einen Zahnersatz zu bekommen ... „ Burgfarrnbach 18.8. Vater: ....Es tut uns in dieser Zeit der Prüfungen so wohl, geschwisterliche Teilnahme und Hilfsbereitschaft zu spüren. Wie wir soeben hören, ist jetzt über Hermann die schmerzliche Mitteilung „vermißt" gekommen. Es ist für Dich, lieber Bruder Friedrich, ganz besonders schwer, und doch bleibt ein Schimmer von Hoffnung auf ein Wiederseh'n. Wir wollen Eure Sorge auch ein wenig mittragen. Von unserem Friedrich wissen wir leider noch gar nichts. Sein letztes Lebenszeichen ist vom 25.6.1944.... „ Von dem Vetter Hans Nicol, 27 Jahre alt, kommt die gleiche Nachricht „vermißt". So haben seine Eltern und wir täglich die Gedanken im Kreis gehen lassen: Kommt ein Brief, kommt die Nachricht, gefallen oder vermißt? So hat meine Mutter ihre wechselnden Gedanken in ein Gedicht gefaßt: „Gefallen ? Vermißt ? 5. August 1944. Wo ist der Raum, in dem Du weilst ? Hält Dich der wilde Kampf noch fest , bist Du totwund bei treuen Händen, die Deiner warten, wie die Mutter gern es täte ? Kommt kein vereinzelt Zeichen mehr aus Deinen Händen, ein letzter Gruß zur Heimat, die Du liebtest ? Wo such ich Dich ? Ein strahlend lächelnd Grüßen erscheint mir oft von Dir, als ob im Auftrag, Du die Mutter trösten wolltest. So bist Du wohl daheim ? Kein Schmerz, kein Mangel, kein Grauen mehr des bösen Kriegs, erreichen Dich Kein Zweifel, kein Wankelmut und kein Verdruß, kann mehr dein liebes Angesicht umdüstern ! Erlöst, beseliget mit schnell erreichten Zielen, vielleicht gar Hand in Hand mit dem geliebten Freund, der Dir voraus gegangen ? Könnte sonst mir lieber Trost ins Herze fallen? Wo such ich Dich ? Nur nicht mehr auf schmerzensvollem Lager, ach, gar mit verstörtem Sinn ! Ein Wiedersehen? Wenn es hier noch wäre, wenn aller Kampf zu Ende !! Gott weiß es. Er tröstet meine Seele. Die Mutter. Gefallen - - 31. B. 1944. „Als wär's ein Stück von mir Nimm hin was Dein ist, Gott, nimm's hin, ich will mich nicht drum grämen. Was von Dir kommt ist mir Gewinn, Dein Geben und Dein Nehmen. Ich lege auf dem Brandaltar, das Liebste Dir zum Opfer dar, ein Stück von meinem Herzen. Es kam von Dir, und blieb auch Dein, und soll nun Dein auf ewig sein. - Hilf' mir es zu verschmerzen. - Der Vater. Anekdoten - Anekdötchen 1. Im Vorgarten des Pfarrhauses stand ein alter, hoch hinausgewachsener Tannenbaum (vgl. Bild S. 54). Wahrscheinlich gehörte er zur Erstbepflanzung des Kriegerdenkmals 1914 /18, das unmittelbar auf dem nächsten Grundstück errichtet wurde. Aus der kleinen Tanne war ein großer altersschwacher Baum geworden, der sich fast hilflos ans Pfarrhaus lehnen wollte. Ein Kirchenvorstandsbeschluß machte seinem Dasein ein Ende. Er wurde gefällt und in kleinen runden Stammscheiben in die Holzscheune des Pfarrhauses angeliefert. Dort stand ein Holzklotz mit einem mehr oder weniger scharfen Beil. Das war nun die Ausgleichsbeschäftigung des Vaters: Nach dem Mittagessen, wenn der Vater kurz seinen Kopf in die Hand stützte, scheuchte uns die Mutter, schon in Windsheim, aus dem Zimmer: Pst, pst, der Vater macht sein Nickerle! Diese Gewohnheit nur etwa 10 Minuten nach dem Essen, Siesta zu halten, hielt er bis ins hohe Alter durch. Dann stand er auf und ging irgendeinem kleinen Hobby nach, z. B. Ahnenforschung für die eigene Familie und schrieb deshalb Briefe. So hat er uns eine reichhaltige Ahnenkartei hinterlassen, verschiedene Linien gehen bis aufs 15. oder 16. Jahrhundert zurück. Nun lag also das Holz in der Scheune. So wurde die Verschnaufzeit zum Holzhacken verwendet, nicht systematisch und zielstrebig: Bis zum Ende der Woche muß ich fertig sein! Nein, einfach solange, wie es ihm gefiel. Dann wurde das kleine Brennholz auf die Seite geschoben, nicht etwa in zierliche Stapeln aufgeschichtet. Die Scheune war groß genug, da konnte schon einmal solch ein Arbeitsplatz unaufgeräumt bleiben. So trocknete das Holz langsam vor sich hin. Und eines Tages holte sich Herr Major Dotzauer ganz harmlos für seinen Kachelofen im Gästezimmer, die schönen handlichen Scheite, vom Herrn Kirchenrat selbst gespalten, zur großen Empörung meiner Mutter: „Er hätte doch wenigstens fragen können." 2. Der Zweigpostamtsvorsteher Balthasar Albert aus Burgfarrnbach kam mit seinen Vorfahren bei der Erfassung des arischen Nachweises nicht recht voran. Schon bei seinen Großeltern - aus dem Steigerwald stam­mend - gab es Schwierigkeiten. Die Pfarrbücher in Burghaslach wiesen nun einmal keinen „Albert" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Der um Rat gefragte Herr Kirchenrat meinte, ob denn auch im katholischen Pfarramt in Mühlhausen angefragt wurde? B. Albert: „Herr Kirchenrat, wir sind doch nicht katholisch"! KR Volkert: „Ja, Sie nicht, aber die Großeltern vielleicht doch"? Als einstiger Pfarrer von Obersteinbach kannte er sich in der Gegend aus. Prompt kam die Antwort: Beide Urgroßeltern waren katholisch. Erst durch den Ortswechsel aus dem Bambergfischen zur Reichsposthalterei Burghaslach wurden neun Kinder ab 1842 evangelisch getauft, wie es die Landesherrschaft, das Markgrafentum Ansbach, einstmals anordnete. KR Volkert (witzelnd): „Na, Herr Albert, katholisch ist doch auch arisch!" 3. Hochzeit Winter/Volkert 1946 in St. Johannis Burgfarrnbach. Da der Bräutigam, Herr Pfarrer Winter, erst vor kurzem seine Pfarrstelle in Ottenhofen angetreten hatte, so wollte der Kirchenchor St. Martin Fürth, nicht zurückstehen und dem einstigen Stadtvikar zu seiner Hochzeit auch ein Lied im Trauungsgottesdienst vortragen. Man einigte sich mit dem Burgfarrnbacher Kirchenchor: St. Martin singt „Harre meine Seele", und St. Johannis singt „So nimm denn meine Hände". Diese Pfarrerstrauung war für beide Gemeinden etwas Besonderes, so daß die Kirche ganz gefüllt war mit Burgfarrnbachern und Fürthern. Ernst und würdig verlief die feierliche Trauung, ausgestaltet mit den schönen Chorälen. Unmittelbar danach, als sich alles zum Hochzeitsessen im Pfarrhaus versammelte, fragte mein Vetter Gerhard Volkert: „Warum hat wohl der Kirchenchor von Fürth, das Lied: »Harre meine Seele« gesungen? „Wieso, das paßt doch ganz gut??" „Nur zu gut, denn da heißt es ja am Schluß: „und ein neuer Frühling folgt dem Winter nach". 4. Mein Vater hatte zu den treuen Mesnersleuten ein sehr gutes Verhältnis. Herr Ammon [In Heft 3: 43 Jahre unter dem Burgfarrnbacher Kirchturm. Ein gesegnetes Mesnerleben. Erinnerungen an den Mesner Fritz Ammon (1928 - 1971 in St. Johannis)] war im Hauptberuf Schneidermeister. So wurde er immer wieder von Vater gebraucht, nachdem die große Armut des Krieges zu Ende war. Er sollte ihm ab und zu einen Anzug fertigen. Irgendwie hatte Vater keine Konfektionsgröße oder er war es einfach aus seiner Junggesellenzeit her gewöhnt. Er trug immer Maßanzüge! Als Vater später in Neuendettelsau wohnte, so rief er einmal in Burgfarrnbach an: KR Volkert: „Herr Ammon, haben Sie Zeit, mir einen Anzug zu nähen? Herr Ammon (am Telefon): Paßt Ihnen der letzte Anzug noch, oder haben sich Ihre Maße verändert ? KR: Nein, er paßt noch, ich brauche nur einen neuen. Wann soll ich kommen?" Herr Ammon: Zum Maßnehmen brauchen Sie nicht zu kommen, denn ich habe ganau die gleichen Maße wie Sie. Meine Frau kann alles an mir abstecken. Als Stoff habe ich da einen soliden Nadelstreifen, blau oder schwarz. (Sie einigen sich.) Also, wenn ich fertig bin, so bringe ich ihn mit meinem Sohn nach Neuendettelsau. Das war ein Hallo, als die Familie Ammon den Anzug brachte und er wie angegossen paßte! 5. Mein Vater hielt, glaube ich, einen guten Unterricht, wenn man das danach beurteilt, ob die Schüler sich die Abhandlung oder die Erklärung merken. Dazu paßt noch eine kleine Story aus Windsheim. 1946 wurde ich Pfarrfrau von Ottenhofen. Dieser Ort ist etwa sieben Kilometer von meiner Kinderheimat entfernt. Deshalb kannte ich noch alle Geschäfte in Windsheim und kaufte hie und da dort ein. So war ich eines Tages beim Gärtner Stöcker. Da begrüßte mich ein junger Mann, wenig älter als ich , gleich mit „Volkerts Berta". (Leider weiß ich seinen Namen nicht mehr) Darauf sagte ich: „Ich bin nimmer die Volkerts Berta, ich bin verheiratet und heiße jetzt „Winter": Darauf er (staunend): „Daß dich dein Vater hat heiraten lassen!" „Wieso nicht?" „Er hat doch immer im Unterricht gesagt, daß wir nicht mit den Mädchen so rum tun sollen." Darauf ich, lachend: „Aber Heiraten, das ist doch was anderes." Da stimmte er ins Lachen mit ein, denn das wußte er auch ganz genau. Immerhin hat er sich, vielleicht sein Leben lang noch an Vaters Unterricht erinnert. 6. Hildegard, eine Schulkameradin, erzählt: „In einer der ersten Konfirmandenstunden war ich und der Siegfried frech. Über den Zwischengang zwischen den Bankreihen kicherten wir miteinander und störten ziemlich den Unterricht. Herr Dekan schimpfte fürchterlich und ging dann nach der Schule gleich zu meinen Eltern. Als ich später dann heimkam, sagte meine Mutter zu mir: „Du kriegst heit dei Schläg', weil du frech warst beim Dekan. Ich: „Nein, der Siegfried war schuld." Da mischte sich mein Vater ein: „Wenn der Siegfried schuld war, dann kriegst du zu deiner Konfirmation den Spruch: „Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge nicht." „Nein, nein, schrie ich, so ann schlechten Spruch will ich net, dann fall' ich am Altar tot um vor Schreck." Mutter: „Ja wart's nur ab, der Herr Dekan war sehr streng!" Ich kriegte mei Schläg', aber dann besann ich mich. Hat der Vadder des von sich aus gesagt oder hat der Dekan damit gedroht?! Das mußte ich rausbringen. Deshalb paßte ich den Dekan am nächsten Tag auf der Straße ab und sagte gleich: „Einen solchen schlechten Spruch will ich net"! „Was denn für einen," sagte er. „Den: Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge nicht.!" „Den willst du freilich nicht. Aber dann mußt du jetzt brav und anständig im Unterricht sein. Dann kriegst du einen schöneren Spruch". Das versprach ich hoch und heilig und dadurch war der Konfirmandenunterricht gerettet und die Hildegard auch. Sie bekam den Spruch: „Denn ihr seid teuer erkauft. Darum so preiset Gott an eurem Leibe und in eurem Geiste, welche sind Gottes (Eigentum)." 7. Im Mai 1966 lud mich mein Vater ein mit ihm nach Pfronten in Erholung zu fahren. Pfronten war eine vertraute Gegend und er wußte seinen Studienfreund Herrn Oberkirchenrat Thomas Breit, mit Frau, zur selben Zeit dort, deren Gesellschaft die Urlaubstage noch verschönern sollte. Er fühlte sich eigentlich frisch und machte täglich vor dem Frühstück einen Morgenspaziergang. Dann fuhren wir am 24. Mai nach Memmingen zur Geburtstagsfeier meiner Cousine. Weit war die Reise nicht, aber er fühlte sich dort schon nicht besonders wohl; er wollte so schnell wie möglich wieder nach Pfronten. Wahrscheinlich ist ihm der Höhenunterschied nicht bekommen: Pfronten ca. 800 m und Memmingen etwa 300 m oder weniger. Jedenfalls begann es damals mit den Herzbeschwerden, bis er einen Kollaps erlitt. Er stürzte so unglücklich, daß er einen Bluterguß im Gesicht davontrug. Nun mußte er im Bett liegen und der dortige Arzt erlaubte erst nach einer Woche die Heimfahrt von Kempten nach Ansbach. Unser Zimmervermieter fuhr uns vorsichtig im eigenen Wagen nach Kempten und half mir dann Vater in einen 1. Klasse Wagen zu bringen. Die Fahrt verlief angenehm. Ganz glücklich und heiter stiegen wir am Ansbacher Bahnhof aus, wo ihm gleich sein Enkel Friedrich (mein Sohn) behilflich beim Aussteigen war. Er hatte unser Auto gar nicht weit weg geparkt. Da sagt doch Vater in bester Laune: "Na, Friedrich, nimmst du in deinem VW auch Farbige mit?" Sein Bluterguß im Gesicht hatte sich nämlich in eine Farbenskala verwandelt: Blau, Rot, Gelb. Wie herzlich mußten wir darüber lachen, und wie trieb es uns später immer wieder die Tränen in die Augen, wenn wir in der Erinnerung an diese Heiterkeit bei der glücklichen Heimkehr dachten. Bald saßen wir in fröhlicher Runde am Kaffeetisch und niemand ahnte, daß es sein letzter Lebenstag war! Filiale Ottenhofen - Pfarrfamilie Winter Unsere erste Pfarrstelle warf uns in der Zivilisation um mindestens 50 Jahre zurück. Wohl hatte das Pfarrhaus fünf Zimmer mit, allerdings unversiegelten, Parkettböden. Dieser Vornehmheit stand das Fehlen elektrischer Beleuchtung gegenüber. Auch mit der Wasserleitung sah es schlecht aus. In der Küche befand sich eine Pumpe, die aber kein Trinkwasser heraufpumpen konnte, wenn sie durch Angießen mit vorhandenem Wasser, geruhte das Pumpsystem anzusaugen und funktionieren zu lassen. Dieses hochgepumpte Wasser war zum Putzen, zum Garten - und Blumengießen, schließlich auch zum Wäschefleien geeignet, falls unsere Muskeln dieser Leistung gewachsen waren. Aber man mußte ja nicht an einem Tag alles vollbringen! Jedoch Trinkwasser mußten wir haben. Wir holten es eimerweise bei einem Nachbarn aus dessen Brunnen. Eine Waschküche ohne Waschmaschine, ja ohne Wasserleitung (wir mußten mit Regenwasser waschen!), eine Küche ohne Elektroherd, ohne Kühlschrank, ohne Licht, dafür ein vorsintflutliches Ungetüm von Holz- und Kohlenherd, ich glaube, wenn ich nicht durch die harte Schule des RAD gegangen wäre, so hätte mich wohl aller Mut verlassen. Bis ich aber nach unserer Hochzeit im Mai 1946 einzog, war wenigsten das elektrische Licht überall eingerichtet, zunächst ohne Schalter, wenn man keine Beziehungen hatte, aber nach und nach bekamen wir auch diese. Aber das Trinkwasser mußten wir bis zuletzt in Eimern holen. In der ersten Zeit des Selbständigwerdens habe ich oft die Mutter angerufen (in der „Öffentlichen"), aber leider konnte Mutter nur immer kurze Zeit von Burgfarrnbach weg, weil Vater noch bis 1949 im Dienst war und der mußte seine Ordnung haben. Seinen 70. Geburtstag am 3. August 1949 feierten wir noch im Pfarrhaus. Danach zogen beide nach mißlichen Umständen, wie bekannt, in das Haus des Kindergartens in der Lehenstraße 14, wo sie in der alten Pfarrei, beim neuen Pfarrer noch bis 1955 ausharrten. Wie gut, daß Ottenhofen, neben allen Mißständen eine Eisenbahnhaltestelle besaß. So konnten die Eltern mich öfters besuchen. Mutter war bei den zwei ersten (Haus-) Entbindungen immer dabei und konnte die ersten Schreie der kleinen Erdenbürger registrieren. Später (1948) kam Vater für einige Tage nach Ottenhofen um mir Gesellschaft zu leisten, weil mein Mann kommissarisch abgerufen war, vom 1.12.1947 bis 1.7.1948 in das Flüchtlings - und Internierungslager nach Dachau. Der kleine Patensohn meines Mannes, der 5 jährige Karl-Friedrich Winter, war schon da, für einige Wochen, damit ich mich nicht so einsam fühlen mußte, wie meine Mutter in Rothausen, als mein Vater in Brasilien war. So hatte ich für vier Personen zu kochen, das vier Monate alte Büblein zu versorgen - und die Zeit des Alleinseins ging so schneller vorbei. Meine beiden Besucher mußten sich während ich kochte, allein miteinander beschäftigen. Bald hatten sie ein gemeinsames Interesse gefunden: Das Schachspiel. Einmal kam ich dazu: Beide starrten auf das Brett. Schließlich tat Karle einen Zug, stemmte seine Hände in die Seiten und rief: „So jetzt hom mer'n." Ungläubig schaute Vater noch genau hin. Dann knirschte er: „Revanche". Da wußte ich, daß diese beiden, der 5 Jährige und der fast 70 Jährige, sich verstehen und miteinander auskommen werden. Das war schon eine gute Vorübung für die Zeit als er Großvater wurde. Diese schöne Epoche begann in unserer Nürnberger Pfarrstelle St. Markus II. 1951: Friedrich vier Jahre, Elsbeth zwei Jahre. Dazu kam dann 1952 Helmut, 1957 Irmgard, und 1958 Renate. Der Großvater hat alle Enkel getauft und ihnen schöne Taufsprüche gewidmet. Als meine Jüngste zwei Jahre alt war, starb meine Mutter in Neuendettelsau. Nun begann die Ära: Großvater, allein, 1960. In diesem Jahr kamen wir nach Heidingsfeld. Doch noch einmal kurz zurück ! Der liebe Großvater. Als Vater aus dem Altersheim in Rummelsberg wieder herausging, suchte er in Neuendettelsau ein Zimmer, weil seine Tochter Marie schon eine Untermieterin in ihre Wohnung mit aufgenommen hatte, allerdings erst seit einem halben Jahr. Er wollte doch in der Nähe des Pflegeheims m wohnen, wo meine liebe Mutter bis zu ihrem Tod bei fortschreitender Parkinsonkrankheit gepflegt werden mußte. Nun wollte er ja täglich bei ihr sein und sie unterstützen, soweit es in seiner Kraft stand. Da traf er seine „Haus"frau aus der Schlauersbacher Straße 15. Ganz empört meinte diese: „Sie werden doch nicht wo anders hinziehen? Im ersten Stock kann ich Ihnen die Wohnung ausbauen. Auch im Dachboden kann man noch ein Kämmerlein gewinnen. Bleiben Sie doch bei Ihrer Tochter"! „Gern, wenn es möglich ist? Zwei Zimmer sagten Sie?" „Ja, im ersten Stock alles mit WC und Küche; in vier Wochen können Sie einziehen". „Das paßt ja großartig, dann könnte ich wieder meine Schwester zu mir kommen lassen in dieses schöne, helle Zimmer. Sie wohnt nämlich in Windsbach in einer Bodenkammer! „So kam es, daß Vater und seine Schwester im Alter wieder zusammen wohnen konnten, er 81 Jahre, sie 83 Jahre alt, beide noch viel zu rüstig fürs Altersheim; dies dauerte sechs Jahre lang. Meine Tante Maria seit eh und je der Einfachheit halber immer „Taria" genannt, konnte nun wieder Gesprächspartnerin sein mit Familienanschluß bei Nichte Marie. Es waren wohl schlechte Zeiten mit großer Wohnungsnot, aber der Zusam­menhalt in dieser Familie, genährt und gepflegt durch die vielen Briefe, war schon einmalig! Heidingsfeld! Was für ein Hallo gab es jedes Mal, wenn wir, die Familie Winter, im Garten gemütlich beim Nachmittagskaffee oder beim Abendessen saßen, wenn der Großvater plötzlich, unerwartet ums Hauseck kam und alle ihn zuerst begrüßen wollten. Umringt von seinen Enkeln ging er die wenigen Schritte zu unserem Sitzplatz und brachte viele gute Laune mit. Einige Tage blieb er dann da, kümmerte sich um die Fortschritte in der Schule, ließ sich alle Neuigkeiten aus der Gemeinde erzählen und zog dann wieder heim. Fünf bis acht Tage, länger hielt er es nicht in diesem unruhigen Haushalt aus. Dann sehnte er sich wieder nach seiner ruhigen und jetzt wirklich schönen Wohnung bei Schwester und Tochter. Weihnachten feierten, Vater und Marie immer bei uns. Wir gestalteten dieses schöne Familienfest genauso wie ich es von Windsheim her gewöhnt war. Abends gab's Weihnachtsliedersingen mit Klavierbegleitung durch Großvater oder Vater. Später auch Blockflötenmusik und die kleinen Geburtstagsfeste wurden immer mit allen Versen des Lieds: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" eingeleitet. Meistens mußten die Geschwister alle, 1/2 Stunde früher als sonst, dem Geburtstagskind zuliebe, aufstehen, um die feierliche Gratulation durchführen zu können. Schließlich waren alle meine Kinder in der Schule. Ich bat Großvater, er möge sich ein wenig mit Renate beschäftigen. Sie hat einen Abschnitt zu lesen aufbekommen, und ich habe keine Zeit, ihr zu helfen. Großvater: „Also lies einmal diese Zeile!" Renate: „Kasperle sagt: Meine arme, kleine .."? ? ? Großvater: „Na, weiter, was sagt der Kasperle"? „Er sagt: Meine arme, kleine ... Oma"! „Großvater: Was, dies soll Oma heißen"? „Lies noch einmal"! Renate weiß nicht weiter. Großvater: „Also diese Ganz- Wort- Lesemethode!" Die Kinder haben ja keine Ahnung, nur ein besseres Gedächtnis. Sie lernen nicht Lesen, sondern das „Schwindeln"! (Bluffen sagte man damals noch nicht). Renate: „Kasperle sagt meine arme, kleine ... Oma"! Großvater: „Zehe heißt das! Meine arme, kleine Zehe". Dem Kasperle ist was auf die Zehe gefallen. Renate: „Ach so", Großvater: „hast du auch eine Zehe?" „Ja" Tut sie dir weh? „Nein" Großvater: „So, dann gehen wir ein wenig spazieren. Du lernst ja heute doch nicht mehr das Lesen." Ab gingen sie. Heute wo Renate selbst Grundschullehrerin geworden ist, sagt sie: „Ich bin immer erstaunt, wenn der größte Teil meiner Kinder bis Weihnachten schon lesen kann." Du hast halt eine bessere Methode. Was Großvater wohl zur Mengenlehre gesagt hätte? Die ist ihm, Gott sei Dank erspart geblieben. Helmut kommt heim und verkündet: „Eine 3 in Latein!" Zufällig ist gerade Großvater auf Besuch: „ Was? eine Drei?. Wenn du bei der nächsten Schulaufgabe eine Eins schreibst, dann kriegst du 10 Mark." Wir Eltern wissen, daß es unpädagogisch ist, durch Geld die Kinder zum Lernen anzufeuern, aber der Großvater darf alles! Helmut hat halt zu viel andere Interessen. Fußball, Briefmarkensammeln, Radfahren. Aber Zehn Mark! Als die nächste Schulaufgabe herauskommt, ist Großvater gerade nicht da. Aber er bekommt einen Brief mit dieser guten Nachricht von Helmut: Eine 1 ! Triumphierend zieht Helmut am nächsten Tag einen Zehnmarkschein aus Großvaters Rückantwort. Die Mutter: „Siehst du, du kannst, wenn du willst." Helmut: „Ich kann halt gerade die zehn Mark gut brauchen." Großvater erlebte noch den guten Schulabschluß von Friedrich und Elsbeth, und Helmuts Konfirmation. Danach schlug er mir eine Reise nach Pfronten vor, wo er früher schon mit Tochter und Schwester war. Er hatte noch die Adresse und wir zogen fröhlich ab. Dort erwartete uns Herr Oberkirchenrat Breit und Frau, die für die nächsten Tage Wandergenossen und Gesprächspartner auf den gemütlichen Bänken wurden bis zu Vaters Sturz, den ich schon bei den Anekdoten erwähnte... Den Tag nach unserer Heimkehr verbrachte Vater im Bett, erledigte aber noch eini­ge Geldsachen. Ich war mit meinem Sohn wieder nach Heidingsfeld abgefahren. Am Abend klopfte er an die Wand zum Zimmer seiner Schwester. Bis diese herüberkam, um nach seinen Wünschen zu fragen, war er schon heimgerufen worden. Viele sagen: So einen Tod wünsche ich mir auch, aber ich konnte es einfach nicht fassen, daß dieses kraftvolle Leben ausgehaucht sein sollte! Im Urteil anderer Mein Vater wäre im Jahr 2000 121 Jahre alt geworden (= 11x11). Die Leute, die sich noch an ihn erinnern, müßten 70 - 90- Jahre alt sein. Die waren damals also Kinder (wie ich). In der Erinnerung wird er wohl auf verschiedene Weise geblieben sein. Die Urteile, die direkt zu mir gelangten, waren immer positiv: Frau Gerlinde Fuchshuber, geb. Ott, betonte einmal sein Geschick, mit Menschen umzugehen: Er war so verbindlich und so freundlich! Herr Pfarrer Oskar Loy, Obernzenn, sprach, in Erinnerung an ihn das Wort aus: „Nie sah ich einen Mann, der seine Kinder so(o) liebte, wie ihren Vater!" Herrn Oberkirchenrat Julius Schieder, den ich einmal vom Burgfarrnbacher Pfarrhaus zum Bahnhof begleiten mußte, (Vater hatte noch eine Bibelstunde zu halten), sagte zu mir (Achtzehnjährigen): Ihr Vater ist „ein rechter Isrealit [(Joh. 1,47.) Israelit = Gottesstreiter], in welchem kein Falsch ist." Dazu noch ein Brief von dem ehemaligen Dekan Curt Schadewitz vom 21.Okt.1963 Sehr verehrter Herr Kirchenrat! Schon Ihre wohlvertraute Handschrift (*) weckte angenehme und frohe Erinnerungen: Wie schön waren doch die Konferenzen im Grünen Baum zu Mellrichstadt, immer am Montag bei wachsendem Mond. Schon der Genuß des Anmarsches vom weltfernen Filke her durch den Wald und die Straße entlang, am säuerlich frischduftenden Sägewerk vorbei, bis das Stadtbild der Metropole auftauchte. Und die Konferenzen selber! Ich habe mich von Filke fortgesehnt, weil ich wohl zu nichts so wenig taugte als zum Dorfpfarrer: Aber die Konferenzen hätte ich mitnehmen sollen, die haben mir immer und überall gefehlt. Ich hatte nur vier Dekane. Aber der einzige, an den ich mit Dankbarkeit denken kann, weil ich bei ihm nicht nur viel gelernt, sondern einen brüderlichen Menschen an ihm hatte, ist der erste von den vieren, sind Sie, lieber verehrter Herr Kirchenrat ! (gekürzt) Ihr ergebener Curt Schadewitz Schlußbetrachtung Es war wie eine Fügung Gottes, daß Vater genau einen Monat vor Kriegsbeginn sein schwieriges Amt, das Dekanat Windsheim, in jüngere Hände legen konnte. In Burgfarrnbach fand er seine Freudigkeit für seine Pre­digt - und Seelsorgeamt wieder. Besonders junge Menschen haben seine Fähigkeit zu dozieren, zu erklären und wegweisende Richtlinien zu geben, erkannt und mit Freuden angenommen. So wurden drei seiner Burgfarrnbacher Konfirmanden Pfarrer: 1. Martin Ammon, geb. 1930 Anstellungsjahr 1956 2. Günther Rupprecht, geb. 1931 Anstellungsjahr 1955 Beide traten in dieselbe Studentenverbindung, die „Uttenruthia", ein und standen seitdem auf freundschaftlichem Fuß mit ihm. 3. Erich Ruff, geb. 1930 Anstellungsjahr 1955 war zuerst einige Jahre in Brasilien (1955 - 1969). Da gab es auch sicher viele Berührungspunkte mit seinem verehrten Religionslehrer. Alle diese Freunde haben nicht nur einige gute und persönliche Erinnerungen an meinen Vater und werden daher den Versuch, „ihn wieder lebendig" werden zu lassen, wie der Freund unseres Hauses, Karl Albert, es unternommen hat, begrüßen. Wenn ich als die Tochter, die mehr in Windsheim verwurzelt war, auch dazu beitragen durfte, so freue ich mich sehr darüber. Immer stand Vater vor meinen Augen, was er dazu sagen würde. Aber ich hoffe, wir sind ihm doch alle gerecht geworden. (Abhandlung in Heftreihe St. Johannis, Nr. 8 ... aus der Gemeinde hervorgegangene Theologen) Anlässe zur Puplikation: A) Marie, die a) den Anstoß gab, das geplante Kirchenfenster von ihrem Seminarleiter, Professor Joseph Bergmann, gestalten zu lassen. Dieses wird immer eine bleibende Erinnerung an die Amtszeit meines Vaters in Burgfarrnbach sein. die b) das Grabkreuz auf dem Elterngrab in Neuendettelsau entwarf und von dem dortigen Kunstschmied Korff ausführen ließ, so einmalig, daß ein Schulbuch für die Grundschule dieses Kreuz als gutes Beispiel für eine Religionsstunde zum Umgang mit dem Sterben, abbildete. Die Umschrift: „Der Herr ist meines Lebens Kraft" ist der Konfirmationsspruch unserer Mutter. B) Karl Albert, der die Erinnerungen an seinen Freund, unseren Bruder Friedrich, zurückstellte, um den verehrten Konfirmationslehrer herauszustellen, und der überhaupt dieses „Pilotprojekt" startete, wofür ich ihm, auch im Namen meiner Familie, hier an dieser Stelle von Herzen Dank sagen möchte. Es war mit viel Arbeit und Kosten verbunden, und C) ich, Berta Winter, die plötzlich das Werk unternahm, die Kindheitserinnerungen zu bündeln, um vor allem Vaters Wesen und Wirken, zu erkunden. So will ich heute die Niederschrift beenden mit dem neutestamentlichen Losungswort: „Das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft". (1. Kor. 4, 20) „So laß nun, Herr, Deine Kraft groß werden, wie Du gesagt hast!" (4. Mose 14,17) (Weggelassen wurden die Anmerkungen und weitere Angaben; E. Brick; 25.4.204)